Der Standard - 20.03.2020

(Ann) #1

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EinTeilCampari,einTeilroterWer-
mut,zweiTeile Bourbon: Das ist
kein Rezept für den populären


Negroni–für diesen stünde anstel-
le vonBourbon einGin.
Es gehtumeinenDrink, der sich


unabhängigvonseinem berühmten
Zutatenvetter aus Italien entwickelt
hat.Der Underdog der europäi-


schen Barszene heißtBoulevardier.
Er braucht auchnicht mehr als drei
Zutaten, um zu punkten. Dazu eine


Orangenzeste und einen großen
Eiswürfel.Diesenbittehändischaus
dem Eisblockgeschnitt en. Das ist


wichtig. Kleinteiliges Eisgebröckel
wird diesemDrink nämlichnicht
gerecht.


WoNostalgiewohnt


Umzu sehen,wo dieReise für den
Boulevardier beginnt,beamt man
sichambesten an eine tiefbraune


Holzthekeineiner Barmit roten
Samtsesseln. Licht schimmert aus
grün-güldenen Tischlampen, wie


sieauchinsomancherBibliothekzu
finden sind. Diese Thekesteht in
Harry’s NewYorkBar in Paris. Der


Pianist George Gershwin hat hier
die Musik für das MusicalEin Ame-
rikaner in Pariskomponiert.


An der Thekesind schon Persön-
lichkeiten wieCoco Chanel, Ernest
HemingwayundHumphrey Bogart


gesessen.Vielleicht haben sie Bou-
levardier getrunken. Heute sind
CocktailswunderbareBegleiter,um


nostalgischinGedankenneben
Bogart und HemingwayPlatz zu
nehmen. Ein Nippen an demkalt-


bitterenDrink,unddieTourdeNos-
talg ie kann starten.
Seit ihrerGründung Anfang des


20.Jahrhunderts hat sichHarry’s
NewYork Bar nämlichkaumverän-
dert.Hier ist dieNostalgievorder


Moderne sicher.Und es istdas
Zuhause des Boulevardiers. Hier


Boulevardier

60 ml Bourbon
30 mlRoterWermut
30 ml Campari
1ScheibeOrange
1großerEiswürfel

Einen niedrigenTumbler
mit einem großen
Eiswürfel füllen.

Bourbon, Campari und
rotenWermut in einem
separatenRührglas
anrichten. Umrühren.
Umfüllen. Orangen- oder
Zitronenzesteins Glas
geben.Zeitreisen.

wurde derDrink erstmals ange-
rührt und serviert.

KeineZukunft in NewYork


DerBoulevardier ist die Erfindung
des Schotten Harry MacElhone, der
vonEuropaindieUSAauswanderte.
Dort mixte erDrinks, bis inNew
York 1920 die Prohibition in Kraft
trat,der gesetzlichverordneteVer-
zichtauf Alkoholunddas Verbot,
Alkoholzu vermarkten.
Das bedeutete nicht,dass alle
abstinent lebten. Speakeasies, ge-
heimeLokale, in denen illegaler Al-
koholausgeschenkt wurde, ent-
springen ebenso der Prohibition
wievieleCocktails.ImGrundedien-
tedasMischenvonGetränkennäm-
lichdazu, den in der Qualität äu-
ßerst fragwürdigen Alkoholmit an-
deren Aromen zu überdecken. In
den Speakeasies hatten diese

Drinks Hochkonjunktur,und es
wurde gefeiert,als ob eskein Mor-
gen gäbe.Weil viele in dieser unru-
higenZeit,im„Morgen“keineZu-
kunftsahen.Die Realität zurSeite
schieben, tanzen,vergessen und
Cocktails trinken, so sah die aufge-
setzt heitereSeite der Prohibition
aus.Auch Harry MacElhone sah in
Amerikakeine Zukunft für sich.Je-
mand, der hauptberuflic hAlkohol
mixte, hatte eswährend der Prohi-
bition auchwirklich schwer.Die
KonsequenzwareineWelleameri-
kanischerBarkeeper,dieüberEuro-
pa rollte und dieCocktailkultur in
der AltenWelt begründete.Unter
ihnen MacElhone.

EinSchotteinParis


Bald hat aucherdas Schiffzurück
nachEuropabestiegen und in der
NewYork Bar in Paris angeheuert.
Damals nochohne„Harry“imNa-
men.1923 ging der Betreiberpleite,
und MacElhone übernahm das
Lokal.
WenigeZeit später rührte er in
ebendieser Bar den ersten Boule-
vardier derWelt an. Er ist dieVer-
mählungvonUr-Amerikanischem,
dem Bourbon, mit Ur-Europä-
ischem: Campari und Wermut.
Geschaffen im damaligenSchmelz-
tiegel derKulturen: Paris.
MacElhones Familie betreibt
Harry’s NewYork Bar bis heute.
BloodyMary, SidecarundBoulevar-
dier,Barkeeper Harry ist derVater
all dieserDrinks.Den Boulevardier
hat er1927 erstmals in seinem Buch
Barflies and Cocktailsbeschrieben.
Undauchwenndie MacElhones in
Paris das Bloody-Mary-Erfinder-
Klischee stärker bemühen: Die
nächtlicheTour deNostalgie zwi-
schen rotem Samt und Licht aus
grünen Lampen ist mit dem Boule-
vardier allemal stilechter. R

DasErbeder Prohibition


Ohne dasVerbotvonAlkohol in denUSA wäreein Schotte nichtnach Parisgekommen –


unddie Welt nicht zu dem Cocktail namens Boulevardier.


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AbsackerText:NinaWessely

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