Der Standard - 20.03.2020

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2 |FREITAG,20.MÄRZ 2020 THEMA:Coronavirus-Krise DERSTANDARD


Während Quarantänemaßnahmen inTirol, Vorarlberg und Salzburg um sich greifen, gibtesweiteröstlich
nochkeine–auchinzweikleinenvomVirusstark betroffenen niederösterreichischen Gemeinden nicht.

M


ittwochabend, um fast genau zehn
Uhr, kam die Nachricht: Ganz Tirol
steht ab Mitternacht unter Quaran-
täne. Diese drastische Maßnahme, die vor-
erst befristet bis 5. April gelten soll, sei not-
wendig, um Tirol zu schützen, erklärte Lan-
deshauptmannGüntherPlatter(ÖVP).Denn
die Neuinfektionen im bisher am stärksten
vom Coronavirus betroffenen Bundesland
nehmen nicht ab. Am Donnerstagnachmit-
tag lag die Zahl der hospitalisiertenPatien-
ten in Tirol bereits bei 35, fünf davon benö-
tigen intensivmedizinische Betreuung.
Um diese Entwicklung zu bremsen und
einen drohenden Kollaps des Gesundheits-
systems, wie er derzeitimbenachbarten
Italien passiert, zu verhindern,dürfen Tiro-
lerinnenundTirolerihreHäusernichtmehr
verlassen. Auch die wichtigsten Besorgun-
gen sindnun nur mehr im Gemeindegebiet
erlaubt. Wer dieses verlässt, muss dafür
triftige Gründe anführen können. Erlaubt
bleibt nur der Weg zur Arbeit, um einen
totalen Zusammenbruch der Wirtschaft zu
verhindern, wie Platter argumentierte.
Die aktuelle Quarantäneverordnung in
Tirol basiert rechtlichauf dem Covid-19-
Maßnahmengesetz, das die Regierungam
vergangenen Wochenende erlassen hat. Sie
sei auch deshalb landesweit verhängt wor-
den, weil man damit Gerüchten zuvorkom-
men wollte, welche Ort- oder Talschaft als


Quarantäne imWesten, Warten im Osten


Steffen Arora, Irene Brickner, Andreas Danzer, Oona Kroisleitner

Nächstes betroffen sein könnte. Durchdie
nunmehr einheitlich geltende Verordnung
für ganz Tirol sei auch für die Bevölkerung
mehr Klarheit geschaffen worden.
Keine derartigen Quarantänemaßnahmen,
weder in einzelnen Gemeindennochlandes-
weit, gibt es derzeit im Osten des Bundesge-
biet s–etwainNiederösterreich.Dortwurden
bisDonnerstagnachmittag 305Coronavirus-
Infektionenregistriert,18 von ihnen in der
undumdieMarktgemeindeReichenauander
RaximSüden desBundeslandes–für die
2524-Einwohner-GemeindeeinehoheZahl.

Bürgermeister erkrankt
Am Mittwoch habe sie erfahren,dass es
im örtlichen Kindergarten eine Covid-19-
Erkrankung gebe, schildert eine Ortsbewoh-
nerin. Inzwischen klage ihre Tochter über
Halsschmerzen.DerBürgermeisterliegemit
derKrankheitdarnieder,dettoeineGemein-
deangestellte sowie eine Reihe weiterer Per-
sonen. Laut der zuständigen Bezirkshaupt-
mannschaft Neunkirchen befinden sich
zurzeit 260 Personen in undum Reichenau
in behördlicher Heimquarantäne.
Von rascher gemeindeweiterQuarantä-
neausrufung war aber nicht die Rede. „Es ist
nicht geplant, die gesamte Marktgemeinde
abzusperren“,wandte sich der Bürgermeis-
ter am Mittwoch via Aushang an die Bewoh-
nerschaft. Am Donnerstag relativierte er auf

demselben Weg: Derzeit seien noch viele
Testresultate ausständig: „Von diesem
Ergebnis wird es abhängig sein, ob es eine
Gebietsquarantäne für den Großraum
Reichenau an der Rax geben wird.“
Ähnliches ist aus der 3500-Seelen-
Gemeinde Ardagger im Niederösterreich zu
berichten, in die Gemeindemitglieder das
Virus aus dem Skiurlaub mitgebracht haben
dürften. Laut Bürgermeister Hannes Pressl
zählte der kleine Ort am Dienstag 18 Infi-
zierte, rund 150 Menschen befinden sich in
häuslicher Quarantäne. „Man kann unsere
Lage nicht mit jener eines Skiortes verglei-
chen. Das Virus hat sich gemeindeintern
schnell ausgebreitet, deshalb habenwir bei-
spielsweise die Messe vergangenen Sonntag
bereits vorsorglich abgesagt“,soPressl. Der
Pfarrer hat sich folglich via Videobotschaft
an die Menschen gewandt.
Auf Grundlage des neuen Covid-19-
Gesetzes, das es ermöglicht, ganze Ortschaf-
ten abzuriegeln, wenn dadurch die weitere
Verbreitung des Virus eingedämmt werden
kann, müsste eine derartige Maßnahme von
der Bezirkshauptmannschaft Amstetten an-
geordnet werden. Dort verweist man aller-
dings in die Landeshauptstadt. „Derartige
Anliegen werden momentan von den zu-
ständigenStellen in St. Pölten abgehan-
delt“, sagt die Amstettener Bezirkshaupt-
frau Martina Gerersdorfer.

Allgemeine Richtlinien für die Abriege-
lung eines Ortes gibt es jedenfalls nicht,
erfuhrderStandardaus dem Büro der
niederösterreichischenGesundheitslandes-
rätin Ulrike Königsberger-Ludwig(SPÖ).
„Jeder Fall wird einzeln analysiert. Solang
sich die Infektionskette zurückverfolgen
lässt und die Betroffenen isoliert wurden,
bringt die Quarantäne keinen Mehrwert“,
sagt dort ein Sprecher. Die Weitläufigkeit
eines Gebiets spiele für die Abwägung eben-
falls eine Rolle. In Ardagger und Reichenau
jedenfallshätteeinekompletteAbschottung
bisher keinen zusätzlichen Nutzen gestiftet.

KeineexplizitenQuarantänekriterien
Explizit formulierte Kriterien für eine
Gebietsquarantäne seien „ex lege nicht fest-
gelegt“, bestätigt dies Oliver Gumhold aus
dem Gesundheits- und Sozialministerium.
„In jenen Gebieten, wo es Clusterbildungen
an Ansteckungen gibt, wird überprüft, ob
eine Quarantäne sinnvoll und notwendig
ist. Das erfolgt in Absprachemit Behörden
vor Ort“, sagte dazu sein oberster Chef
Gesundheitsminister Rudi Anschober
Donnerstagmittag bei einer Pressekonfe-
renz. Es sei gut, wenn regional gehandelt
werde: „Ich kann nur die regionalen Behör-
den dazu ermutigen,die nötigen Maßnah-
men zu setzen und wenn nötig auch diesen
Schritt zu gehen“.

Geschlossene Rehazentren bringen „Sicherheitsnetz“von6 00 0Betten


TrotzMaßnahmengegendas Coronavirus sei man noch nicht da,womanhinwolle–NeueMöglichkeitengegenhäusliche Gewalt


Oona Kroisleitner
Michael Möseneder

T


rotz der Maßnahmen gegen
die Ausbreitung des Coro-
navirus sei man noch nicht
da, wo man hinwolle, sagte am
Donnerstag Innenminister Karl
Nehammer(ÖVP).Denndasobers-
te Ziel sei, wie Gesundheitsminis-
ter Rudolf Anschober (Grüne) be-
tonte, „italienische Verhältnisse
zu vermeiden“. Dort sei die Si-
tuation „dramatisch“ und spitze
sich zu. Österreich liege in der
Entwicklung der Krise zwei Wo-
chen hinter dem Nachbarland.

Man wolle mit „allen demokrati-
schen Maßnahmen und Möglich-
keiten“ dafür sorgen, dass das so
bleibe.
Die Zunahme der Infizierten sei
in Österreich aber „nach wie vor
eine drastische“. Positiv sei aller-
dings, dass es unter den Betroffe-
nen eine ausgeglichene Altersver-
teilung gebe. Dadurch könnten
rund 90 Prozent in Heimpflege le-
ben, nur elf Menschen lägen auf
der Intensivstation. Um die Res-
sourcen im Gesundheitssystem
aufrechtzuerhalten, kündigte An-
schober einen Erlass noch am
Donnerstag an, die Reha-Zentren

in Österreich zu schließen. Perso-
nen, die akute Betreuung benöti-
gen, würden diese aber auch wei-
terhin erhalten. Bis zum Wochen-
ende würden in diesen Zentren
6000zusätzlicheBettenösterreich-
weit geschaffen: „Es ist ein Sicher-
heitsnetz.“
Angesichts der Bewegungsein-
schränkungen befürchten Exper-
ten eine Zunahme der Fälle von
häuslicher Gewalt. Um dem ent-
gegenzuwirken, haben Frauenmi-
nisterin Susanne Raab (ÖVP) und
Justizministerin Alma Zadić(Grü-
ne) am Donnerstag ein Maßnah-
menpaket vorgestellt.

Zadićkündigtean,siewerdevon
ihrengeplanten„Sonderermächti-
gungen“,die im Covid-19-Maßnah-
mengesetzstehen, „selbstverständ-
lich“ Gebrauch machen. Das wür-
de bedeuten, dass die Polizei den
von häuslicher Gewalt Betroffe-
nen gleich beim Erstkontakt An-
trägezurErlassungeinereinstwei-
ligen Verfügung gegen gewalttäti-
ge Partner aushändigen kann und
die ausgefüllten Formulare einige
Tage später bei Kontrollbesuchen
mitnimmt. Die Anzeigen könne
man auch elektronisch erstatten,
wurde versprochen.
KommentarSeite 24

Die Minister Anschober (li.) und
Nehammer sind besorgt.
Foto: APA/Helmut Fohringer

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Foto: APA
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