Der Standard - 20.03.2020

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4 |FREITAG, 20 .MÄRZ2 02 0DTHEMA:ThemaCoronavirus-Krise ERSTANDARD


JUSTIZ


Das Justizsystem soll in eine Art Win-
terschlaf fallen.Fristen werden unter-
brochenund ab 1. Mai neu gestartet.
Verwaltungsstrafverfahren und Asyl-
verfahren werden ausgesetzt.Verhand-
lungen sollen nur in Fragen der Haft
oder von Leib und Leben durchgeführt
werden,dabei setzt das Justizministe-
rium aufVideotelefonie bei Einvernah-
men.Das könnte auch auf Hauptver-
handlungen ausgeweitet werden.
Scheidungskindersollen weiterhin beide
Elternteile sehen dürfen.Dies stellte das
Justizministerium klar, nachdem es
zuvor mitgeteilt hatte, dass Kinder den
nicht betreuendenElternteil wederbe-
suchennoch von diesem besuchtwer-
dendürfen.IneinenErlassdesGesund-
heitsministeriums solle eine „Ausnah-
me“ aufgenommen werden.(fsc)


Viel Hektik rund um


neues Corona-Paket


AmFreitag bringt derNationalrat die nächstenVorgabengegen
die Epidemie auf denWeg–einigeAbgeordnete müssen zu Hause
bleiben, derFinanzminister entsorgt das alte Dogma des Nulldefizits.

V


or der Nationalratssitzung am Freitag
herrschte bis zuletzt das große Zit-
tern: Ganz Tirol hat sich wegen des
grassierenden Coronavirus Selbstisolation
verpasst. In Vorarlberg stehen längst meh-
rere Ortschaften unter Quarantäne. Auch
aus den anderen Bundesländern häuften
sich wieder die Hiobsbotschaften rund um
die Epidemie. Daher galt lange als unge-
wiss, wie viele der 183 Abgeordneten über-
haupt im Parlament erscheinen können.
Konkret entschieden die Regierungsfrak-
tionenÖVPundGrüneimVorfeld,dassihre
Mandatare aus Tirol nicht an der Plenarsit-
zung teilnehmen–was acht Mandataren
entspricht. Dazu kommt auf grüner Seite
die Vorarlbergerin Nina Tomaselli, die sich
seit Montag in Quarantäne befindet, weil
sie mit einer infizierten Person, die in St.
Anton war, in Kontakt gewesen ist.
An den Mehrheitsverhältnissen im Na-
tionalrat ändert das voraussichtlich nichts.
Denn die Koalitionsfraktionen verfügen da-
mit über 89 anwesende Abgeordnete, und
die Opposition kommt in voller Montur nur
auf 86. Dazu kündigten SPÖ, FPÖ und Neos
an, dass ihre Mandatare aus den beiden
westlichsten Bundesländern, also sieben
Personen, ebenfalls nicht kommen werden.

Kooperationsbereite Opposition
Über all das mussten sich die Klubs der
OppositionquasierstinletzterSekundemit
ihren jeweiligen Experten beraten: Denn
Türkis-Grün will schon mit diesem Wo-
chenende mit neuen Maßnahmen gegen die
Corona-Krise ankämpfen(Details siehe Käs-
ten).Angesichts der nächsten Krisengeset-
ze sicherte die SPÖ erneut Kooperations-
bereitschaft zu, mahnte aber ein, dass die
einschneidenden Gesetze nur befristet gel-
ten dürfen. Auch die Neos finden „die meis-
ten Dinge vernünftig“.

Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP), sein grü-
ner Vize Werner Kogler und Co wollen sich
vomParlamentauchdenSanktusgebenlas-
sen, Beschlüsse im Notfall per Videokonfe-
renzfassenzukönnen.„Esgehtdarum,dass
die Regierung in der Corona-Krise stets
handlungsfähigistundbleibt“,hießesdazu
aus dem Umfeld des Kanzlers. Ein ähnli-
ches Prozedere ist für die Richter am Ver-
fassungsgerichtshof vorgesehen.

Schlag nach bei Kreisky
Noch ein Novum wird der Freitag mit
sich bringen: Finanzminister Gernot Blü-
mel (ÖVP) sagte seine Budgetrede ab, statt-
dessen will er nur eine Erklärung zum wan-
kenden Staatshaushalt abgeben. Um
Arbeitsplätze zu sichern und das Gesund-
heitssystem zu schützen, ist Blümel bereit,
sogar mehr als fünf Prozent Defizit in Kauf
zu nehmen–was in der ÖVP, die das ähn-
liche Mantra von Ex-Kanzler Bruno Kreis-
ky (SPÖ) stets ablehnte, jahrzehntelang als
undenkbar galt.
In all dem Trubel hat sich der National-
rat außerdem an die neuen Vorschriften zu
halten: Im Plenum muss zwischen jedem
Mandatar ein Sessel leer bleiben, die ande-
re Hälfte der Mandatare hat auf der Galerie
oder in Nebenräumen Platz zu nehmen.
Nur für die Beschlüsse, die blockweise ab-
gefertigt werden, dürfen sich alle anwesen-
den Mitglieder der fünf Fraktionen kurz im
Plenarsaal versammeln, um per Handzei-
chen ihre Zustimmung oder Ablehnung zu
den Gesetzesmaterien kundzutun.
Am Samstag muss dann der Bundesrat
seinen Segen geben: Auch hier ist fraglich,
wie viele Mandatare der Länderkammer es
nach Wien schaffen. Fest steht: Erst danach
kann der Bundespräsident das neue Geset-
zeswerk unterzeichnen, damit die nächsten
Corona-Vorgaben in Kraft treten.

Jan Michael Marchart, Nina Weißensteiner

GEFÄNGNISSE


Viele Menschen auf engem Raum
unterkargenBedingungen:Gefängnis-
se könnten sich rasch zu Hotspots für
das Coronavirus entwickeln. Deshalb
hat Justizministerin Alma ZadićVor-
schläge geliefert, wie Insassen ge-
schütztwerdenkönnen.So sollenstatt
persönlicher BesucheTelefonate oder
Videokonferenzen durchgeführt wer-
den. Freigänge sind gestrichen. Infi-
zierte oder Verdachtsfälle sollen als
vollzugsuntauglichgelten, ihre Haft sol-
len sie erst nach der Genesung antre-
ten, im Notfall kann auch eine andere
Form des Vollzugs stattfinden. Wer
seine anderen Strafbestimmungen
nicht leisten kann (etwa Fußfessel),
muss nicht in Haft.Justizwachebeamte
arbeiten in Teams, die miteinander
nicht in Kontakt kommen sollen. (fsc)


KRANKEN HELFEN


Medizinische und pflegerische Leis-
tungen dürfen im Normalfall nur von
Profis ausgeübt werden–für die Coro-
na-Krise wird das vielerorts aufge-
weicht.Sanitäterdürfen etwa künftig
auchAbstriche in Mund und Nasedurch-
führen. Außerdem kann man während
der Pandemie als Sanitäter arbeiten,
ohne die dafür regulär nötigen Auffri-
schungskurse belegt zu haben. Das
trifft viele Männer, die während des
Zivildiensts vor etlichen Jahren als Sa-
nis tätig, seither aber inaktiv waren.
Auch im Bereich der Krankenpflege
werden die Ausbildungskriterien für
viele Tätigkeiten nach unten gefahren.
Pensionierte Ärzte und Turnusärzte,
denen es eigentlich an Zertifikaten
mangelt, werden ebenfalls mit mehr
Kompetenzen ausgestattet. (ta)

ZIVILDIENER


Die Regierungmobilisiert seit Wo-
chenbeginn zusätzliche Zivildiener:
Rund 4500 werden zur Verlängerung
verpflichtet, Ex-Zivis werden zu einer
freiwilligen Meldungaufgefordert. Um
die Zivildiener in Krisenzeiten flexibel
und weitreichend einsetzenzu können,
tretenfürdenaußerordentlichenZivil-
dienst geänderte Regelungen inKraft,
die so historisch erstmals schlagend
werden.Zivildienstministerin Elisa-
beth Köstinger kann damit per Verord-
nungfestlegen,dassZivisauchzurAuf-
rechterhaltung der kritischen Infrastruk-
tureingesetzt werden können. Zudem
sollen sie auchbei inländischen gewinn-
orientierten Unternehmenzum Dienst
herangezogen werden können. Diese
Firmen müssen dem Staat allerdings
WARNSYSTEME die Kosten für die Zivis erstatten. (ta)

In Notfällen muss die Bevölkerung gewarnt
werden. In Österreich ist das gar nicht so
einfach, einheitlich alle Bürger zu errei-
chen. Zwar gibt es das Warnsystem Kat-
warn, das auch weiterhin zum Einsatz
kommt. Das müssen Nutzer allerdings zu-
nächst selbst einrichten, bevor sie Benach-
richtigungen empfangen. Die Bundesregie-
rung will daher Telekomanbieter dazu ver-
pflichten, von ihr verfassteWarnungenan
deren Kundenper SMSweiterzuverbreiten.
Aus Zeitgründen soll das auch formlos ge-
schehen. Bisher durften Telekombetreiber
freiwillig entscheiden, ob sie mitwirken
wollen. Aufgrund des besonderen öffent-
lichen Interesses soll nun bei Nichtbefol-
gung eine Strafe von bis zu 37.000 Euro auf-
erlegt werden können. (muz)

KUNSTUND KULTUR


Da die noch im alten Epidemiegesetz ent-
haltene Abgeltung für abgesagte (Kultur-)
Veranstaltungen gestrichen wurde, braucht
es andere Maßnahmen, um die existenzbe-
drohende Situation der tausenden Allein-
unternehmer am Kreativsektor abzufedern.
Die Regierung setzt im neuen Corona-Ge-
setz auf den Künstlersozialversicherungs-
fonds,der im Jahr 2020fünf Millionen Euro
mehr an Beihilfenausschütten können wird.
Gelten soll dies nunmehr auch für Kultur-
vermittler. Für Yvonne Gimpel von der In-
teressenvertretungIGKulturistdasabernur
ein „wichtiger erster Schritt“: Der Fonds de-
cke „nur einen Bruchteil des Spektrums je-
ner ab, die das Kulturleben, wie wir es ken-
nen, aufrechterhalten“. Vor allem der Non-
Profit-Sektor brauche weitere Hilfen. (stew)

GibtErklärung ab, statt Budgetredezu halten: Zur Bewältigung der Corona-Krise ist FinanzministerBlümel bereit, mehrals fünf ProzentDefizit in Kauf zu nehmen.

Foto:APA

/R

obertJaeger

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