Der Standard - 20.03.2020

(Ann) #1

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Erstaunen erzeuge ich
allerdings nicht dadurch,
dassichdenGeruchvonTee,


Mehl oder Früchten unverändert
nachbilde. Man muss die einzelnen StoffezuZei-
chen umdeuten, ihnen eine neue Bedeutungver-


leihen.“ –InderWeltvonEllenastehtderDuftdes
grünenTees fürJapan, das Mehl für die Haut,die
Mangofür Ägypten. Später,imGeschäft, ent-


scheidet sichder Konsument für jeneKopf-,
Herz-und Basisnoten, die seinen sentimentalen
Speicherplatz im Gehirn am stärksten an-


sprechen.


Geruchsillusionen


ManhatdiegroßenKlassikerallenochinErinne-
rung.Aber waserzählen sie einem heute?Der


Fotograf und ichwollen den Proust-Effekt an uns
selbst erfahren.Wirbegeben uns auf „la recher-
chedutempsperdu“–inunseremFallnichtdurch


den Genuss vonMadeleines, sonderndurch
einen Streifzug quer durchdie Verkaufshalle
einer großen Parfümerie.


Hier stehen sie, dieAqua-DüftevonGuerlain–
undwaseinem imSprühnebel entgegenströmt,
das ist für michwie damals, diesesFrühstückin


einem spanischen Luxushotel, mit rosaGrape-
fruit,Champagner und buttrigen Croissants.Der
Fotograf erkennt in Shalimar diehysterischen


MütterseinerSchulfreunde,Uno-City-Bürosund
70ies-Safari-Shops.


BlackPeppervon
Comme des Garçons
aufgesprüht,und ichspazie-
re um Mitternacht über nassen As-
phalt in Paris.JoyvonDior lässt die gemeine
Freundin aus der Ballettstunde auferstehen.Der
FlakonvonMontblancversetzt denFotografen
zurückineineNewYorkerPapierhandlung.Yvon
YSLHomme in meinerNase, schon steht er da,
der eingebildeteTürsteher aus jenerZeit,inder
die Clubs nochDisco hießen.
DerFotografhat sichinzwischen This isLove
vonZadig&Voltaire auf einenTeststreifen ge-
sprüht.Und schon rollt die geballte Insta-Girlie-
Powerüber ihn, mitTrainingshosen und kilome-
terlangenWimpern.EaudeCitronNoir von
Hermès erinnert uns an unsereVäter,die ihre
Schubert-Sinfonien nochauf Schallplatten hör-
ten.Undmit SundayColognevonByredo werden
die Sonntage endlichwieder so, wiesie einmal
waren:heimlichesKüssenaufweißerLeinenbett-
wäsche,während draußen im Garten alles leuch-
tetund blüht.

Reisegepäck


Ja,Gefühle sind groß–und in den meistenFällen
auf nichts begründet als Assoziationsketten, Er-
innerung undFantasie.Weil eben alles mit allem
zusammenhängt,nicht nur in der Quantenphy-
sik. „DieTeile derWelt stehen alle in solcher Be-
ziehung und solcherVerkettung miteinander,

dass ichesfür unmöglichhalt e, den einen oder
den anderen undohne das Ganze zu erkennen“,
notierte der französische Philosophder Renais-
sance,Blaise Pascal, in seinen Gedanken.
Es geht also nicht um Düfte, sondern um Zu-
stände. Das betont auchder Chemiker und frühe-
re Parfumkritiker derNewYorkTimes,LucaTu-
rin.CuirdeRussievonChanelistfürihneinerder
bestenLederdüfte überhaupt: „Er wird mich
immer an dasWageninnere des1954er Bentley
meines Stiefvaters erinnern, in dem ichals
kleiner Bub allein auf demRücksitz saß und auf
dem ausklappbaren Mahagoni-Tischchen spie-
len durfte.“
Ein Koffer voller Erinnerungen.So muss Par-
fum.Weil sinnlichesVergnügen eine Entschei-
dung des Geistes ist.„WieMenschen einen Ge-
ruchbewerten,hängtsehrdavonab, obangeneh-
me oder unangenehme Situationen damitver-
knüpft sind“, schreibt der österreichischePsy-
chologeundAutorWernerStangl.„Esgehtumer-
lernte Assoziationen,weshalb auchgenerellun-
angenehme Gerüche wieSchweiß, Chlor,ver-
branntesGrillgut oder durchdrehendeAutorei-
fenpositive Gefühleauslösenkönnen.“
Wiegesagt, derKopf eines ausgewachsenen
Menschen sollte nachnichts riechen, außer nach
einem guten Duft oder Shampoo.Und dasgroße
Ganze beschreibt keiner besser als Marcel
Proust: „Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde,
sondern ein mit Düften, Klängen und Plänen an-
gefülltes Gefäß.“ R

In der Sekunde nun,dadieser


mit den Gebäckkrümeln gemischte SchluckTee


meinenGaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt


durch etwasUngewöhnliches, das sich in mirvollzog.


DerProtagonist inMarcel
ProustsWerk „Auf derSuche
nach derverlorenenZeit“
wirdvonMadeleine-
Küchlein undTee
plötzlich in seine Kindheit
zurückversetzt
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