Der Standard - 20.03.2020

(Ann) #1

International


Angesichts derständigsteigenden Zahl will die Regierung in Rom die Quarantänemaßnahmenverlängern.
Wenn diese erfolgreich sind, sollte sich das spätestens amWochenende bemerkbar machen.

S


eit dem 11. März herrscht in ganz Ita-
lien ein weitgehendes Ausgangsver-
bot –und trotzdem nimmt die Zahl der
Infizierten und Toten weiterhin stetig zu:
Am Donnerstag ist die Zahl der an Covid-
19 verstorbenen Patienten um 427 auf 3405
gestiegen. Damit sind in Italien inzwischen
mehr Menschen am Coronavirus gestorben
als in China. Besonders schlimm bleibt die
Situation nach wie vor in Bergamo in der
Lombardei. In der Nacht auf Donnerstag ist
dort das Militär mit einer langen Lastwa-
genkolonne angerückt–nicht um den über-
lasteten Krankenhäusern zu helfen, son-
dern um 60 Tote in ihren Särgen in andere
Städte abzutransportieren. Das örtliche
Krematorium ist trotz 24-Stunden-Betriebs
nicht mehr in der Lage, alle Opfer der Epi-
demie einzuäschern.
Der Gesundheitsbeauftragte der nordita-
lienischen Region, Giulio Gallera, rief die
Regierung in Rom im Interview mit der Ta-
geszeitungRepubblicazu einem komplet-
ten Shutdown auf: Das Personal in den
Krankenhäusern sei am Ende seiner Kräfte,
immer noch seien zu viele Menschen auf
den Straßen unterwegs. Angesichts der dra-
matischen Entwicklung–landesweit haben
sich bis Donnerstagabend 41.000 Personen
infiziert–kündigte die Regierung an, die
bisher verordneten Quarantänemaßnah-
men auf unbestimmte Zeit zu verlängern.
Dies betrifft insbesondere auch die Schlie-
ßung aller Schulen, Kindergärten und Uni-
versitäten, die ursprünglich am 3. April
hätten wieder aufsperren sollen. „Es ist
klar, dass die bisher getroffenen Maßnah-
men, sowohl die Schließung vieler Unter-
nehmen und der Schulen als auch die Ein-

schränkungen für Private, zwangsläufig
über den Termin hinaus verlängert werden
müssen“, sagte Regierungschef Giuseppe
Conte.Mit den Maßnahmen habe man „den
Kollaps des Gesundheitssystems verhin-
dert“, die Quarantänewerde „hoffentlich in
einigen Tagen“ zu einer Verlangsamung der
Epidemieführen–aber nur, wenn sich alle
an die verordnete „soziale Distanz“ halten
würden. Mit der Disziplin hapertesinIta-
lien allerdings: Bei über einer Millionan
vorgenommenen Kontrollenwurden vorige
Woche 45.000 Anzeigenerstattet. Diese be-
trafen Menschen,die sich ohne triftigen
Grund im Freien aufgehalten hatten,sowie
Geschäftsbesitzer, die ihre Läden geöffnet
ließen, obwohl sie keine Produkte des
Grundbedarfs verkaufen.

Weniger Tests
Bisher haben die Einschränkungen der
Bewegungsfreiheit in Italien zumindest in
absoluten Zahlen nicht zu einer Verlangsa-
mung der Epidemie geführt. Theoretisch
müsste die Kurve aber an diesem Wochen-
ende abflachen. Ein Rückgang könnte auch
andere Gründe haben als eine Verminde-
rung der Neuansteckungen. Die Bilanz
hängt maßgeblich davon ab, wie viele Tests
durchgeführt werden. In den Spitälern der
Lombardei „werden inzwischen sehr viele
Patienten mit Symptomen abgewiesen,
ohne dass bei ihnen ein Test durchgeführt
wird“, sagte der Biologieprofessor Enrico
Bucci, der die Fallzahlen seit Beginn der
Epidemie analysiert, der Repubblica.In
Wahrheit könne niemand eine Prognose
darüber machen, wann die Epidemie ihren
Höhepunkt erreichen werde, so Bucci.

Italienzählt mehr Corona-Tote als China


Dominik Straub aus Rom

W


ie zu Beginn des Zweiten Welt-
kriegs fliehen tausende Pariser
Richtung Süden. „Der Exodus
wirft die Frage der Virusübertragung auf
andere Regionen auf“, so Gesundheits-
minister Olivier Véran. Gilles Pialoux,
Chef der Infektionsabteilung im Pariser
Spital Tenon, schimpfte im TV über den
„mangelnden Sinn für das Allgemein-
wohl“. Er habe „genug von der Disziplin-
losigkeit“ in Sachen Volksgesundheit.
Eine Pariserin namens Mathilde schil-
derte in einem bretonischen Lokalblatt,
sie sei auf der Insel Belle-Île–wodas Co-
ronavirus noch nicht angekommen ist –
mit eisigen Blicken empfangen worden.
„Man wirft uns vor, das Virus anzu-
schleppen, die Läden zu leeren und die
Spitalbetten zu füllen.“ Der Bürgermeis-
ter der malerischen Bretagne-Insel ruft
die Inhaber von Zweitresidenzen formell
auf, von jeder Anreise abzusehen. Auf
der Atlantikinsel Île de Ré, wo viele Rent-
ner Angst vor der ersten Ansteckung ha-
ben, haben die Behörden sämtliche
Strände und Radwege geschlossen.
In der Hauptstadtwehren sich Abrei-
sendegegen denoftgehörtenVorwurf,die
reichen Pariser setzten sich über die na-
tionale Solidarität hinweg und gefährde-
ten den Sinn der Ausgangssperre. Vor
dem Bahnhof Montparnasse erklärte ein
Student, er sei keineswegs privilegiert,
lebeerdoch mit seiner Freundin in einer
23-Quadratmeter-Wohnung. Wochen-
langdarin eingeschlossen zu sein könne
er sich schlicht nicht vorstellen. Da fahre
das Paar lieber ins Ferienhaus der Eltern.
Ohne jedes Virus, versprochen. (brä)

FRANKREICH


Franzosen bangenwegen
Ausgangssperren um ihreFreiheit

B


elgien war das erste EU-Land nach
Italien, das bereits in der vergange-
nen Woche sehr harte Maßnahmen
gegen die Verbreitung des Coronavirus
setzte,ähnlichwiezweiTagespäter auch
dieösterreichischeRegierung.DerNatio-
nale Sicherheitsrat verfügte die komplet-
te Schließung von Cafés, Bars, Restau-
rants, Kinos, aller Sport-, Kultur- und
Freizeitaktivitäten. Apotheken und nur
Geschäfte für den dringenden Lebensbe-
darfhabenoffen.DerUnterrichtanSchu-
len wurde eingestellt, sie bleiben aber für
Kinderbetreuung offen. Am Mittwoch
folgte eine allgemeine Ausgangssperre.
Dieses „belgische Stufenmodell“ wird
inzwischen von vielen Ländern ange-
wendet. Der rasche Notstand war doch
überraschend, weil die Zahl der Corona-
Infizierten damals noch ähnlich niedrig
war wie in Österreich. Und das König-
reichhatseiteinemJahrnachwievornur
eine Übergangsregierung unter Premier-
ministerin Sophie Wilmès.
Die Umsetzung ist nicht untypisch für
die improvisationsgeübten Belgier: Die
Stilllegungdes Landes klappt gut, auch
wenn sich die Leute nicht sklavisch an
polizeilich kontrollierte Regeln halten. In
dermultikulturellenEU-HauptstadtBrüs-
sel ist es still wie nie, der Flugverkehr ist
ausgesetzt, Straßen sind leer. Der sprich-
wörtliche Humor und die Gelassenheit
der Menschen tragen dazu bei. Super-
märkte etwa waren nie ausverkauft. Es
gibt Klopapier. Die Menschen sind seit
den Terroranschlägen von Islamisten im
März 2016 an den nationalen Notstand
und an Sicherheitsregeln gewöhnt. (tom)

BELGIEN


DieBelgier sind denNotstandseit
denTerroranschlägengewöhnt

N


iemand ist verzichtbar. Es kommt
auf jeden an!“ Mit diesen ein-
dringlichenWortenhatsichKanz-
lerin Angela Merkel in ihrer ersten TV-
Ansprache abgesehen von den Neujahrs-
redenandieDeutschengewandt.Siever-
suchte noch einmal mit großer Vehe-
menz klarzumachen, was deutsche Poli-
tiker seit Tagen predigen: Man solle zu
Hause bleiben und die sozialen Kontak-
te auf das Nötigste beschränken.
DochauchinDeutschlandwirdimmer
häufiger über eine Ausgangssperre ge-
sprochen. Diese wäre das letzte Mittel,
wenn sich die Bürgerinnen und Bürger
nicht an die Appelle der Politik halten.
Angesichts des massiven Eingriffs in die
Freiheitsrechte hoffen viele, darum he-
rumzukommen.
Eine erste Ausgangssperre gibt es in
Bayern. In der oberpfälzischen Klein-
stadt Mitterteich (7000 Einwohner) stie-
gen die Covid-19-Fälle so stark an, dass
die Einwohner nun ihre Wohnungen
und Häuser nur noch in wenigen Fällen
verlassen dürfen (Arbeit, Arztbesuch,
Einkaufen, Tanken).
Bayerns Ministerpräsident Markus Sö-
der (CSU) droht bereits: „Wenn sich vie-
le Menschen nicht freiwillig beschrän-
ken, dann bleibt am Ende nur die bay-
ernweite Ausgangssperre als einziges
Instrumentarium, um darauf zu reagie-
ren. Das muss jedem klar sein.“ Auch die
Länder Berlin und Brandenburg erwägen
eine Ausgangssperre. Der Regierende
Bürgermeister von Berlin, Michael Mül-
ler (SPD), sagt: „Aber ich hoffe sehr, dass
wir das vermeiden können.“ (bau)

DEUTSCHLAND


EineAusgangssperregibtes
bisher nur in einem Ort inBayern

W


enn man auf Spaniens Straßen
plötzlich von oben angebrüllt
wird, dann hat man es nicht mit
einem zornigen Chef zu tun. Vielmehr
werden dort für die seit Sonntag gelten-
den Ausgangssperren von der Polizei
auch Drohnen eingesetzt, die mit Laut-
sprechern ausgestattet sind.
Spanien ist weltweit eines der am
meisten betroffenen Länder. Trotz der
Ausgangssperren gingen die Infektions-
raten in den letzten Tagen weiter stark
nach oben. Am stärksten betroffen ist die
Region Madrid. Die Regierung hat den
Notstand ausgerufen,Kinderbetreuungs-
einrichtungen, Schulen, Unis, Bars und
Geschäfte sind geschlossen. Die Maß-
nahmen gelten zunächst für 15 Tage.
PolizeiundArmeesindfürKontrollenim
Einsatz. In der Millionenstadt Madrid,
wo fast die Hälfte der Fälle aufgetreten
ist, werden nun Hotels in Krankenhäu-
ser umgebaut. Auch Medizin Studieren-
de im letzten Semester sind im Einsatz.
Unterdessen haben die Spanier auch
noch einen anderen Grund als andere
Europäer, auf ihren Balkonen zu lärmen.
Während der Rede von König Felipe VI.
am Mittwochabend protestierten sie
gegen das „Corinnavirus“, wie der Kor-
ruptionsskandal des Königshauses ge-
nannt wird, in den Exkönig Juan Carlos I.
und seine damalige Geliebte Corinna
Larsen verwickelt sein sollen. Schmier-
gelder in der Höhe von 65 Millionen Euro
seien dabei aus Saudi-Arabien in die
Schweiz geflossen. Die Protestierenden
verlangen vom Königshaus, das Geld
nun zur Verfügung zu stellen. (mhe)

SPANIEN


Spanierwerden mit Drohnen
amAusgehengehindert

WieJoe Bidenandie Spitzeder US-Demokratenstürmt.


Eine ReportagevonFrankHerrmann.


US-VORWAHLKAMPF

Derrote Ruf ausWien


nach mehrMitbestimmung


SPÖ-VORSITZ

Seite8INNENPOLITIK Seite 9

FR.,20.MÄRZ2 020 7


International


Foto:DrewAngerer


Die Botschaft steht in den Fenstern: „Bleibt zu Hause“, so der Aufruf
an einem Bürogebäude im norditalienischen Mailand.

Foto:AP

/L

ucaBruno

ITALIEN


CORONAVIRUS


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