Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

Mittwoch, 25. März 2020 ∙ Nr.71 ∙ 241.Jg. http://www.nzz.ch ∙€3.2 0 ∙ £2.


Banken: Gefragt sind neue Geschäftsmodelle und Manager Seite 12


DiffizilerStreit

inderCorona-K rise

Bund erachtet Tessiner Regime als widerrechtlich


Der Alleingang des Kantons
Tessin im Kampf gegen dasVirus
provoziert den Bund. Doch
ein Kräftemessen mitten
in der Krise liegt nicht drin.

FABIAN SCHÄFER, BERN
PETERJANKOVSKY, BELLINZONA

Im Prinzip ist derFall klar: DieFührung
in der Corona-Krise liegt beim Bundes-
rat. In Absprache mit den Kantonen hat
er vergangeneWoche dieausserordent-
licheLage ausgerufen, die ihm weit-
reichendeKompetenz gibt. Doch nun
legt sich einmal mehr ein Kanton quer:
Aus Sicht derTessinerRegierung sind
die Massnahmen des Bundes gegen das
Virus zu zaghaft. Sie hat am Sonntag zu-
sätzlicheVerschärfungen in Kraft gesetzt,
die vorerst bis EndeWoche gelten: Alle
Privatfirmen müssen den Betrieb ein-
stellen, abgesehen von essenziellen Be-
reichen wie Lebensmittel oder Pharma.
SämtlicheBaustellen müssen schliessen,
und bei den Hotels gelten neueAuflagen.
All diese Beschlüsse gehen über die
Vorgaben des Bundesrats hinaus. Das
Verdiktaus Bern ist deshalb eindeutig:
Das TessinerRegime istrechtswidrig.
Dies erklärte der Direktor des Bundes-
amts fürJustiz (BJ), MartinDumermuth,
am Montag vor den Medien. Man habe
dies derTessinerRegierung auch «ganz
klar»kommuniziert.Vom Bundesrat
selber gibt eskeine Stellungnahme, da
er denFall noch nicht besprochen hat.
Sprecher André Simonazzi verwies auf
Anfrage auf denBJ-Direktor, der die
rechtlicheLage klar dargestellt habe.

Kompromiss «Krisenfenster»?


Was nun? Die Situation ist delikat. Der
Kampf gegen dasVirus erträgtkeinen
Konflikt zwischen Bund und Kantonen.
Dies mag die Zurückhaltung des Bun-
desrats erklären. In der Südschweiz, wo
die Zahl der Erkrankten und derTodes-
fälle bisher am höchsten war, dürfte es
schlecht ankommen, wenn Bern Bel-
linzona nun massiv unter Druck setzen
würde. Zudem finden auch andere Kan-
tone, der Bundesrat müsse weiter gehen.
Niemand hat ein Interesse an einer
Eskalation. Am Montag traf sich eine
Dreierdelegation des Bundesrats mit
den Spitzen der Kantonsregierungen. Im
Nachgang wurde ein möglicherKompro-
miss skizziert: BJ-DirektorDumermuth
bestätigte, dass man über die Einfüh-
rung von «Krisenfenstern» nachdenke.
Damitkönnte der Bundesrat besonders
betroffenen Kantonen erlauben, für eine
gewisse Zeit zusätzliche Massnahmen zu
verhängen. Offen ist, wie dies geregelt
werden kann, ohne dass wiederein föde-
ralistischer Flickenteppich entsteht und
der Bundesrat die einheitlicheFührung
aus der Hand gibt.
DieRechtslage imTessin bleibt vor-
erst unklar. Für dieregionaleWirtschaft
könnte dies gravierendeFolgen haben.
Wenn eineFirma aufgrund einer wider-
rechtlichen kantonalenVorgabe den
Betrieb einstellt, hat siekein Anrecht
auf Kurzarbeitsentschädigung. Leid-
tragende wären die Angestellten. Un-

klar ist laut dem BJ-Direktor, obin sol-
chen Fällen der Kanton für den Schaden
haften muss. Sicher scheint, dass dieFir-
men gute Erfolgschancen haben, wenn
sieVerfügungen des Kantons anfechten.

Tessin lenktnich t ein


ImTessinwill man nicht nachgeben.«Wir
sind zuversichtlich, dass wir dem Bun-
desrat unsere Entscheidungen begreif-
lich machenkönnen», sagte derTessiner
Regierungspräsident ChristianVitta am
Montag. Die Massnahmen seien weiter-
hin in Kraft, und sie würden die beson-
dere Situation im Kanton berücksichti-
gen.Damit spielt er wohl bereits auf die
Möglichkeit eines «Krisenfensters» an.
GemässVitta ist dasTessin punktoVer-
breitung desVirus derRestschweizein
biszwei Wochen voraus. Daher habe man
nicht länger mit derVerschärfung warten
können, um so ein exzessives Ansteigen
derFallzahlen zu verhindern.
Zumindest dieTessinerBaufirmen
werden sich kaum auf demRechtsweg
zurWehr setzen. «Wir werden nichtre-

kurrieren, denn neben anderen haben
auch wir die Kantonsregierung zumBau-
stellenstopp aufgefordert», sagt Nicola
Bagnovini, der Direktor derTessiner
Sektion desBaumeisterverbandes. An-
träge aufKurzarbeit und Ersatzzahlun-
gen seien angesichts derrechtlichen Un-
klarheit verfrüht.LautBagnovini ist der
Stopp derBauarbeiten ein schmerzlicher
Einschnitt. Doch es sei die einzige Mög-
lichkeit, den prekären Zustand auf dem
Bau nicht noch zusätzlich zu verlängern.
Schon vorTagen ist der Betrieb auf
etlichenTessinerBaustellen praktisch
zum Stillstand gekommen. In letzter Zeit
fehlten viele Grenzgänger auf demBau
und in den Handwerksbetrieben, weil sie
in Quarantäne waren oder stundenlang an
der Grenze feststeckten.Ausserdem seien
wegen der landesweiten Einschränkungen
beimVerkauf kaum nochBaumaterialien
vorhanden.AuchBagnovini fordert den
Bund auf, den Kantonen mehr Spielraum
zu lassen – allen voran demTessin, denn
Europas grösstesCoronavirus-Krisen-
gebiet liege direkt vor der Haustür.

ANNICK RAMP / NZZ

Die Zeit


der Einschränkung


Leere Züge, leere Plätze – die neuen Massnahmen des Bundes scheinen zu greifen.
Laut der Stadtpolizei Zürich halten sich die Städter mehrheitlich gut an dieVor-
gaben. Am Montag ist zudem das Angebot im öffentlichenVerkehr erneutreduziert
worden. DieAusfälle undTeilausfälle betreffen denFernverkehr sowie den grenz-
überschreitendenRegionalverkehr. Schweiz, Seite 21, Zürich und Region, Seite 22

Die amerikanische Notenbank


interveniert so stark wie noch nie


US-Politiker ringen um billionenschweres Hilfsp aket zur Überbrückungder Corona-Krise


MARTIN LANZ,WASHINGTON


Schwindelerregend. So sind die jüngs-
ten Entwicklungen rund um das Corona-
virus in den USA zu bezeichnen. Die
Pandemie überrollt dasLand. Am Mon-
tag waren bereits weit über 40 000 be-
stätigte Ansteckungen und fast 600Tote
zu beklagen.Vielerorts steht dieWirt-
schaft still,Dutzende Millionen Ameri-
kaner sitzenzu Hause. Angesichts der
zunehmend dramatischen Situation sind
sich die Bundespolitiker einig:Jetzt muss
mit Hilfsgeldern geklotzt werden.Wie
das aber geschehen soll, ist umstritten.


PolitischeBlo ckade


Statt sich auf Elemente wie die Direkt-
zahlungen an die Bevölkerung zukon-
zentrieren, die vonRepublikanern wie
Demokraten unterstützt werden, ist
der Gesetzgebungsprozess inWashing-
ton einmal mehr zu einem wahlpolitisch
motivierten Weihnachtsbaumschmü-
cken verkommen. Seit die Spitzen der
beidenParteien und PräsidentTr ump
vergangeneWoche signalisiert haben,
dass man zum Öffnen der Schleusen
bereit ist, wittern Freund undFeind
die Chance, das Hilfspaket beliebig
und auch um sachfremde Anliegen zu
erweitern. Lobbyisten aller Couleur
sind in den vergangenenTagen ausge-
schwärmt, ganz nach dem Motto, sich ja
nicht eine Krise entgehen zu lassen, um
etwas für die eigene Klientel herauszu-
holen. Am Montagnachmittag (Orts-
zeit) ist unter anderem deshalb ein An-


trag desrepublikanischen Senatsführers
Mitch McConnell zum zweiten Mal ge-
scheitert, die Coronavirus Aid,Relief,
and Economic Security oderCARES
Act genannteVorlage zur Abstimmung
zu bringen.Weil die Demokraten wis-
sen, dass esTr ump und denRepublika-
nern mit diesem Hilfspaket vor allem
auch darum geht, die Präsidentschaft
zuretten und dieWiederwahl zu kau-
fen, spielen sie nicht einfach mit. Gröss-
ter Stein des Anstosses ist für sie die
Ausgestaltung eines 500-Milliarden-
Dollar-Fonds zur Stützung von Gross-
firmen. Hier wirkt die umstrittene, in
der Öffentlichkeitdamals als bedin-
gungslos wahrgenommeneRettung von
Finanzinstituten während derFinanz-
krise 2008/2 00 9 nach. Die Demokraten
wollen um jeden Preis verhindern, dass
Konzerne undReicheerneut als Krisen-
gewinner hervorgehen werden.
Die Blockade imKongress hat das
Federal-Reserve-System (Fed), die ame-
rikanische Zentralbank, unter zusätz-
lichen Druckgesetzt.Das Fed feuert be-
reits seit zweiWochen aus allenRohren,
um dieWirtschaft zu stützen und das
Finanzsystem zu stabilisieren. Es sieht
sich aber gezwungen, seine Massnahmen
stetig zu erweitern. Über dasWochen-
ende hatte der geldpolitischeAusschuss
unter der Leitung vonJeromePowell er-
neutkonferiert, damit man am Montag-
morgen (Ortszeit)rechtzeitig vor Be-
ginn des Handels an derWall Street ein
neuesPaket präsentierenkonnte. Mit
den neuen Massnahmen geht dasFed
inzwischen weiter, als es im Zuge der

Finanzkrise gegangen ist. Die Zentral-
bank machte am Montagmorgen deut-
lich, dass sie mindestens vorübergehend
das gesamte US-Finanzsystem absichern
und die amerikanischeWirtschaft flä-
chendeckend mit Kredit versorgen wird.

Fehlende Kommunikation


Kernstück der Massnahmen ist die Be-
reitschaft, so viele US-Staatsanleihen
und staatlich garantierte hypotheken-
besicherteWertpapiere zu kaufen, wie
für einreibungslosesFunktionieren der
Finanzmärkte und die Umsetzung der
Geldpolitik nötig sind.Allein dieseWoche
wird dasFed täglich Staatsanleihen im
Wert von ungefähr 75 Milliarden Dollar
und Hypothekenpapiere imWert von un-
gefähr 50 Milliarden Dollar kaufen.Dar-
über hinaus sollen ab dieserWoche auch
verbriefte gewerbliche Hypothekendar-
lehen (CMBS) erworben werden.Das Fed
wird dieseWoche also weit über 600 Mil-
liarden Dollar anWertpapieren erwerben.
Das stellt alles Bisherige in den Schatten.
Was steckt dahinter? Offensichtlich
ist die Unsicherheit an denFinanzmärk-
ten so gross, dass selbst die normaler-
weise als bombensicher geltenden US-
Staatsanleihen unter Druck geraten. An-
gesichts derTr agweite der bereits ergrif-
fenen Massnahmen täten dasFed und
dasFinanzministerium gut daran, die
Öffentlichkeit offensiver über ihre Ab-
sichten aufzuklären.Das Krisenmanage-
ment braucht ein Gesicht, mit dem sich
die Bürger identifizierenkönnen.
«Reflexe», Seite 8

Corona-Pandemie
Island:Kein anderesLand testet
so umfassend auf dasVirus. Seite 3

Deutschland:Die Schuldenbremse soll
ausgesetzt werden. Seite 10

Wohnungswechsel:Der Umzug zum
Monatsende ist erlaubt. Seite 11

Kommentar:Ein völliger Stillstand
wäre rücksichtslos. Seite 14

Kultur:Streaming kann Live-Erlebnisse
kurzfristig ersetzen. Seite 15

Vorbereitung:Spitäler und Kantone
rekrutieren für die grosseWelle.Seite 19

Sozialhilfe:Die Zahl der Anträge steigt
sprunghaft an. Seite 23

Tokio:Die Olympischen Sommerspiele
werden umeinJahr verschoben.Seite 24

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