Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

10 WIRTSCHAFT Mittwoch, 25. März 2020


INTERNATIONALE AUSGABE


Berlin legt riesiges Corona-Notpaket vor

Die deutsche Regierung befürchtet eine tiefe Rezession und will die Schuldenbremse au ssetzen


RENÉHÖLTSCHI


Die deutscheRegierung hat am Mon-
tag ein Massnahmenpaket zum Schutz
derWirtschaft vor den Corona-Auswir-
kungen verabschiedet, das nochmals
weit über die vor gut einerWoche an-
gekündigte «Bazooka» hinausgeht.Ver-
bunden damit ist ein Nachtragshaushalt
fürdas laufendeJahr, der statt derbisher
angestrebten «schwarzen Null» ein mit
Krediten zu deckendes Staatsdefizit von
156 Mrd. € vorsieht, wieFinanzminis-
ter Olaf Scholz undWirtschaftsminis-
terPeter Altmaier an einer gemeinsa-
menPressekonferenz erläuterten.Da-
von entfallen 122,5 Mrd. € auf Corona-
bedingte Mehrausgaben und 33,5 Mrd.€
auf Steuerausfälle, die infolge der Krise
erwartet werden.


Staatsbeteiligungen möglich


Die geplante Neuverschuldung entspricht
rund 4,5% des letztjährigen Bruttoinland-
produkts (BIP) und übersteigt die in der
Schuldenbremse fixierte Obergrenze für
das Staatsdefizit erheblich. Deshalb will
dieRegierung eine Klausel aktivieren,
laut der die Obergrenzenach Zustim-
mung des Bundestags in aussergewöhn-
lichen «Notsituationen, die sich derKon-
trolle des Staates entziehen und die staat-
licheFinanzlage erheblich beeinträchti-
gen», überschritten werden kann.
Die geplanten Zusatzausgaben sind
unter anderem für Soforthilfen an
Kleinstunternehmen (siehe unten), die
Existenzsicherung(Hartz IV), etwafür
«Solo-Selbständige», und Gesundheits-
ausgaben (z. B.zentrale Beschaffung
von Schutzausrüstung, Förderung der
Impfstoffentwicklung und der Behand-
lungsmassnahmen) vorgesehen.
Zugunsten derWirtschaft stechen
aus den umfangreichenVorschlägen vor
allem zwei Massnahmen hervor:


„Soforthilfe für Kleinstunternehmen:
EinFonds von 50Mrd.€ wird mit ein-
maligen Zuschüssen für drei Monate
von bis zu 15000 € Kleinstunterneh-
men (bis 10 Mitarbeiter) und sogenann-
ten Solo-Selbständigen unter die Arme


greifenkönnen.Gedacht ist zum Bei-
spielan Kneipen oder Coiffeure, die
wegen der gesundheitspolitischenAuf-
lagenschliessen müssen, oderKünstler,
die nicht auftretendürfen.Das Geld soll
laut Altmaier nicht den Umsatzausfall
ausgleichen, aber die Zahlung der lau-
fenden Betriebskosten ermöglichen.

„Wirtschaftsstabilisierungsfonds:
Aufbauend auf den Strukturen des in
derFinanzkrise geschaffenenBanken-
rettungsfonds (Soffin) wird einWirt-
schaftsstabilisierungsfonds (WBS) ge-
schaffen. Er hat drei Instrumente zur
Unterstützung von grösseren Unterneh-
men (mehr als 249 Mitarbeiter) zurVer-

fügung. Mit einem Garantierahmen von
400 Mrd. € kann er denFirmen dieRe-
finanzierung am Kapitalmarkt erleich-
tern. 1 00 Mrd.€ kann er dafür aufwen-
den, mit vorübergehenden Beteiligun-
gen die Insolvenz oder die feindliche
Übernahme eines Betriebs abzuwenden.
Schliesslich kann er Kredite von bis zu
100 Mrd. € aufnehmen, um die Corona-
bedingten Sonderprogramme der staat-
lichen Förderbank Kreditanstalt für
Wiederaufbau (KfW) zurefinanzieren.
Die Garantien des WBSwerden vor-
erstkeine Staatsausgaben zurFolge
haben, weil derFonds nur einspringt,
wenn ein Garantienehmer nicht mehr
zahlen kann.Das Geld für die Betei-

ligungen und dieRefinanzierung der
KfW müssteder Staat hingegen auf
dem Kapitalmarkt aufnehmen. Zusam-
men mit dem erwähnten Nachtragshaus-
haltkommt man so auf Kreditermächti-
gungen von bis zu 356 Mrd. €.
Neben diesen grossen Brocken hat
das Bundeskabinett am Montag eine
Reihe weiterer Massnahmen beschlos-
sen.Für die Bürger von Bedeutung ist
etwa ein Gesetzesentwurf zumKündi-
gungsschutz:Wer in den Monaten April
bis vorerstJuni die Miete oderPacht
für eineWohnung oder einen Gewerbe-
raum wegen der Corona-Auswirkungen
nicht bezahlen kann, dem darf derVer-
mieter deswegen nicht kündigen. Die

Pflicht zur fristgerechten Zahlung bleibt
jedoch bestehen.
DienötigenZustimmungen von Bun-
destag und Bundesrat zu den einzelnen
Elementen desPakets sollen im Eilver-
fahren noch dieseWoche erfolgen. Die
neuen Massnahmen ergänzen den er-
leichterten Zugang zuKurzarbeitergeld,
dieLiquiditätshilfen über die KfW und
die steuerlichen Massnahmen, die die
Regierung bereits Mitte März auf den
Weg gebracht hat.

Gewaltige Schäden befürchtet


Das vonWirtschaftsverbänden begrüsste
Paket zeigt, wie stark sich dieRegierung
inzwischen wegen derAuswirkungen der
Corona-Krise um die Wirtschaft sorgt.
Zum einen stehen nicht nur Luftverkehr,
Gastronomie undTeile des Handels weit-
gehend still, sondern zum Beispielauch
die für dieVolkswirtschaft wichtigeAuto-
mobilindustrie. Zum anderen überbieten
sichWirtschaftsforscher mit düsteren
Szenarien. Am Montag hat das Münch-
ner Ifo-Institut eine Studie veröffentlicht,
wonach schon einTeilstillstand derWirt-
schaft während zweier Monate je nach
SzenarioKosten zwischen 255 Mrd. und
495 Mrd. € verursachen würde. Damit
würde die deutscheWirtschaft im laufen-
denJahr um7, 2 bis 11,2 Prozentpunkte
schrumpfen. Bei einer dreimonatigen
Teilschliessung betrüge derWachstums-
verlust laut dem Ifo-Chef ClemensFuest
bereits 10,0 bis 20,6 Prozentpunkte.
Scholz sagte vor den Medien, man
könne noch nicht seriös einschätzen, wie
stark dieWirtschaftsleistung in diesem
Jahr sinken werde. Der Nachtragshaus-
halt beruhe auf der Annahme, dass der
BIP-Einbruch ähnlich wie in derFinanz-
krise rund 5% betragen werde.
Vor diesem Hintergrund wird die Ab-
kehr von der schwarzen Null von nam-
haften Ökonomen unterstützt. Lars
Feld, derVorsitzende derWirtschafts-
weisen,sagte am Sonntag gegenüber
der«Welt», wenn der Anteil der Schul-
den am Bruttoinlandprodukt nun von
60 auf 80 oder 90% steige, sei damit die
finanzpolitische Solidität desLandes
nicht infrage gestellt.

Finanzminister Olaf Scholz (l.) undWirtschaftsministerPeter Altmaier kündigen inBerlin ein umfassendesRettungspaket an. M. SOHN / AP

Die EU-Finanzminister bereiten ihr Geschütz vor


Im Kampf gege n den Absturz der europäischen Wirtschaft könnte der Euro-Krisenfonds zum Einsatz kommen


CHRISTOPH G. SCHMUTZ, BRÜSSEL


Über dasWochenende haben sich die
Rufe vermehrt, wonach die EU im
Kampf gegen die wirtschaftlichenFol-
gen des Coronavirus mehr Geld in die
Hand nehmen soll. Insbesondere wird ge-
fordert, dass neben den geldpolitischen
Massnahmen der Europäischen Zentral-
bank (EZB) nun auch mehr Steuergelder
europaweit solidarisch eingesetzt werden.
So aktivierten dieFinanzminister der
EUam Montagabend in einerTelefon-
konferenz die sogenannte allgemeine
Ausweichklausel. Diese Notfallklausel
erlaubt es den Mitgliedstaaten, von den
Vorgaben des Stabilitätspaktes temporär,
so lange wie nötig,abzuweichen. Durch
dieseAufweichung der Haushaltsregeln
soll esLändern wie Italien ermöglicht
werden, die nötigenAusgaben im Kampf
gegen das Coronavirus zu tätigen.Dar-
über hinaus verdichten sich die Anzei-
chen, dass die EU demnächst noch mehr
tun wird.
Anlässlich einer Telefonkonferenz
vor einerWoche trugen dieFinanz-
minister der EU-Mitgliedstaaten zu-
nächst lediglich die nationalen Mass-
nahmen zusammen und begrüssten die
Vorhaben derKommission.Doch es gab
keine Einigung auf zusätzliche Gelder.
Hinter denKulissen sind diesbezüglich
allerdings längst intensive Gespräche
amLaufen, wieWirtschaftskommissar
Paolo Gentiloni in einem amWochen-
ende publizierten Interview in der
«FinancialTimes» sagte. Auch derVize-
präsident und für den Euro verantwort-


licheKommissar, Valdis Dombrovskis,
bestätigte dies gegenüber dem Nach-
richtendienstReuters.
Evaluiert werden grob vereinfacht
zweiVarianten.Dawäre zunächst ein-
mal dieAusgabe von gemeinsamen
Coronavirus-Schuldscheinen. Dafür
plädierten amFreitag in einem offenen
Brief rund 400 Ökonomen um Profes-
sor AidanRegan von der Universität
CollegeDublin.Auch der französischen
StarökonomenThomas Piketty hat das
Schreiben unterzeichnet.

Gibt Deutschland nach?


Grob vereinfacht geht es demSchrei-
ben nach darum, dass die Staaten mit
dem Euro alsWährung gemeinsam An-
leihen begeben und mit den damit ver-
bundenen Einnahmenden Kampf gegen
die wirtschaftlichenFolgen des Corona-
virus finanzieren würden. Als Schuldner
stünden die 19 Euro-Länder mehr oder
weniger gemeinsam hinter diesen Obli-
gationen.Das hätte denVorteil, dass
beispielsweise ein bereits jetzt hoch
verschuldetesLand wieItalien deutlich
günstiger an Geld käme, als wenn es sel-
berFremdkapital an den Märkten auf-
nehmen müsste.
Der Nachteil ist, dass ein solches
Instrument ein Präzedenzfall wäre und
falsche Anreize setzte. Wenn man im
Krisenfall von den anderen Geld erhält,
warum sollte man dann noch eine solide
Haushaltspolitikbetreiben und in guten
Zeiten für schlechterePerioden vorsor-
gen und etwa Schulden abbauen?

Eine weitere Gruppe von Ökono-
men um ClemensFuest, den Präsidenten
des MünchnerWirtschaftsforschungs-
instituts Ifo, wies in einem Beitrag am
Wochenende ferner auf zwei praktische
Probleme von Euro-Corona-Bonds hin.
So gibt es derzeitkein gemeinsames
Vehikel, um Schuldscheine zu begeben,
und die Mitgliedstaaten hätten grund-
sätzlich unterschiedliche Strategien im
Kampf gegen dasVirus, was eine ge-
meinsameFinanzierung erschwere.
Und wenn mit Steuergeldern euro-
päische Schulden garantiert werden sol-
len, so müsste die EU erhebliche neue
Kompetenzen zugesprochen erhalten.
Dabei handelt es sich um einen alten
Konflikt. Länder wie Deutschland und
die Niederlande wehren sich seitJahren
gegen eine solcheVergemeinschaftung
von Schulden. EntsprechendeVorstösse
gab es bereits in derFinanzkrise.
Aufgrund der erwähnten Hindernisse
erscheint es wahrscheinlicher, dass die
EU den Euro-Krisenfonds ESM an-
zapft. Dieser wurde eigentlich geschaf-
fen, um Euro-Ländern in Not gegen
Auflagen Kredite zu gewähren.Das war
beispielsweise derFall, als Griechenland
den Zugang zu den Kapitalmärkten in
der Staatsschuldenkrise verlor. Doch der
ESMkennt mittlerweile auch präventive
Programme. Nun wirddiskutiert, dass ei-
nige – oder gleich alle, um ein Stigma zu
vermeiden – Gelder imRahmen der so-
genannten Enhanced Conditions Credit
Line (ECCL) beantragen würden. Der
Nachteil ist, dass dieses Instrumentspe-
zifisch aufLänder ausgerichtet ist, die

den Marktzugang verloren haben, und
dass es maximal über zweiJahre läuft.
Das Problem sei, sagte Dombrovskis,
dass die Grösse dieser Programme mög-
licherweise nicht ausreiche. Sie seien für
asymmetrische Schocks kreiert worden,
die einzelneLänder träfen, und nicht für
symmetrische, die allen schadeten.
DieKommission ist von denFinanz-
ministern der Euro-Zone (der soge-
nannten Euro-Gruppe) beauftragt wor-
den, einen möglichen Einsatz des ESM
im Kampf gegen das Coronavirus vor-
zubereiten. Entsprechend wird auch
über ein völlig neues ESM-Instrument
nachgedacht.Das schlagen zumindest
die Ökonomen um ClemensFuest vor.
Eine Covid-Kreditlinie soll allen Mit-
gliedstaaten langfristige Gelder zur
Verfügung stellen, und zwar imVerhält-
nis zur Betroffenheit von der Corona-
virus-Krise. DieLaufzeit soll sehrlang
sein und die Mittel nur an wenige Be-
dingungen geknüpft werden.

Draghis «Superwaffe»


Der ESM hat derzeit eine verfügbare
Kapazität von 410 Mrd. €, was 3,4%
des Bruttoinlandproduktes (BIP) der
Euro-Zoneentspricht.Für ein ESM-
Programm spricht aus der Sicht von
Dombrovskis auch, dass dieTeilnahme
an einem solchen eine Bedingung ist,
dass die EZB ihre «Superwaffe» ein-
setzen kann. Diese wurde vom vormali-
gen Präsidenten Mario Draghi in der
Finanzkrise kreiert,aber seither nie ein-
gesetzt. Gemeint ist das Programm mit

dem Namen «Outright MonetaryTr ans-
actions (OMT)». Dieses erlaubt der
EZB, unbegrenzt Staatstitel jener Euro-
Länder am Sekundärmarkt zu kaufen,
die einen vorbeugenden Kredit oder ein
volles Anpassungsprogramm derRet-
tungsfazilität ESM durchlaufen.Die-
ses besonders in Deutschland stark kri-
tisierte Programm würde die Möglich-
keiten der EZB erheblicherweitern.Es
wäre extrem weitreichend, im Gegen-
satz zu anderen EU-Massnahmen, wie
Kritiker nicht müde werden zu betonen.
Bisher hat die EU imWesentlichen
vier Dinge getan, um die wirtschaftlich
negativenFolgen des Kampfes gegen
das Coronavirus zu beschränken. Ers-
tens stellte dieKommission rund 105
Mrd. € aus bisher nichtgenutztenKohä-
sionsmitteln und von der Europäischen
Investitionsbank zurVerfügung. Zwei-
tens beantragte dieKommission die nun
vondenFinanzministern gutgeheissene
Aufweichung der Haushaltsregeln. Drit-
tens kündigte die EZB ein Kaufpro-
gramm für Staats- undFirmenanleihen
von 750 Mrd. € an. Und viertens hat die
Kommission ein befristetesRegelwerk
angenommen, das staatliche Beihilfen
einfacher möglich macht.
Die Finanzminister wollten am
Dienstagabend miteinander bespre-
chen, ob die EU eher mit dem ESM
oder mit Corona-Eurobonds gegen das
Virus kämpfenwill. IhreÜberlegungen
sollen dann am Donnerstag den Staats-
undRegierungschefs der EU vorgelegt
werden, die letztlich darüber entschei-
den müssen.
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