Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

Mittwoch, 25. März 2020 MEINUNG & DEBATTE 13


INTERNATIONALE AUSGABE


CHLOÉ JAFÉ

FOTO-TABLEAU

Das geheime Leben


der japanischen


Mafia-Frauen 3/


Yakuza, der Name der japanischen Mafia, heisst
wörtlich übersetzt «extremerWeg». Ihre Ursprünge
lassen sich bisin dieEdo-Zeit (1600–1868) zurück-
verfolgen. Die Organisation selbst führt ihre Abstam-
mung auf die damaligen Glücksspielsyndikate zurück.
Wer damals sein gesamtes Hab und Gut verloren
hatte oder als Krimineller auf der Flucht war,
heuerte oft bei derYakuza an, die ausser Unterkunft
und Arbeit auch so etwas wie Struktur und Geborgen-
heit bot. Zu derYakuza gehören verschiedene,
miteinander rivalisierendeBanden.Wie beiallen
Mafia-Organisationen sind ihre Metiers Prostitution,
Geldwäsche und Glücksspiel sowie der Drogen- und
der Menschenhandel. Auch imBaugewerbe und im
Banken- und Immobiliengeschäft ist sie aktiv; nach
dem Tsunami imJahr 2011 und der Havarie des
AtomkraftwerksFukushima soll dieYakuza sogar bei
der Entsorgung des Atommülls ihreFinger mit im Spiel
gehabt haben. Im Gegensatz zu anderenLändern weiss
man inJapan über das dortige Agieren der Mafia-
Organisationrelativ gut Bescheid;ein Geheimnis sind
jedoch ihreFamilien. «DieYakuza sind nicht patriar-
chalischer als derRest desLandes», sagt dieFotografin
ChloéJafé, die das Leben derFrauen in den Gangs
dokumentiert hat. Die meisten führten ein Leben wie
viele andere japanische Hausfrauen. Die Gruppe, die
sie begleitet habe, sei einerFamilie sehr ähnlich
gewesen, sagtJafé. Wenn sich die Männer träfen, um
Geld und Alkohol zu organisieren, kümmerten sich
die Frauen um das Essen.

Schockstarre durch Coronavirus


Wir müssen unsere Freiheiten wieder wertschätzen

Gastkommentar
Von UlrikeAcke rmann


«Alles Hysterie!», hörte man noch vor wenigen
Wochen ziemlich häufig. Doch vielen Abwieglern
undVerharmlosern des tödlichen Coronavirus
sind spätestens seit dem in vielenLändern verfüg-
ten Shutdown, denGrenzschliessungen und nun
auch dem Lockdown dieWorte versiegt. Die staat-
lich-administrativ verfügten rigiden Massnahmen
zur Bekämpfung der weltweiten Seuche flankieren
eine Krise, wie sie die westlichen Demokratien seit
Ende des Zweiten Weltkriegs nicht erlebt haben
und derenFolgen völlig ungewiss sind – ökono-
misch, politisch, gesellschaftlich und die Zukunft
der EU betreffend. Es ist der grösste Stresstest, den
die liberalen Gesellschaften zu bestehen haben.
Angesichts derWucht der bedrohlichenPande-
mie verblassen offensichtlich die jüngst gemach-
ten Krisenerfahrungen und die Debatten dar-
über:Finanzkrise, Euro-Schuldenkrise, die islamis-
tischenTerroranschläge, die verheerendenFolgen
des Syrien-Krieges, die alte und erneut aufflam-
mende Migrationskrise, der Brexit, die Krise der
Volksparteien und der Erfolgrechter und linker
Populisten. Selbst die apokalyptischenRufe, die in
der so hitzig-polarisierten Klimadebatte denWelt-
unte rgang prognostizierten, sind im Moment ver-
stummt. Und seltsam entrückt wirkt nun dieAuf-
regung in Deutschland, die den landespolitischen
Wirrnissen inThüringen galt.


Der Populismus wird kleinlauter


Die jetzige Situation ist eine Zeitreise anderer Art:
Die Grenzen sind dicht, der öffentlicheRaum ist
leergefegt, das gesellschaftliche Leben stillgestellt,
der freieAustausch vonPersonen, dieVersamm-
lungs-, Bewegungs- undReisefreiheit sind ausge-
se tzt. Der Markt und die Produktion geraten ins
Stocken, Schlangen bilden sich. So lebte es sich in
der geschlossenen Gesellschaft hinter dem Eiser-
nen Vorhang vor1989, in denkommunistischen
Diktaturen – was viele imWesten gar nicht so tra-
gisch fanden.
Viele erfahren erstmals in ihrem Leben solch
drakonische Einschränkungen ihres Lebensstils
und ihrer individuellenFreiheit – und würden
doch gerne dieParty weiterfeiern.Aus Rücksicht
auf diese liebgewonnenenFreiheitenreagierten
nicht nurPolitiker aus dem fröhlichen Rheinland
oder beliebten Skigebieten viel zu zögerlich auf die
Pandemie. Inzwischen scheint sich endlich die Ein-
sicht durchgesetzt zu haben, dass unsereFreiheiten
und unser Lebensstil, den anspruchsvollsten, den
wir je hatten, nur zu halten sind, wenn wir in aus-
sergewöhnlichen Situationen zum Schutz der Ge-
sundheit und des Gemeinwohls bereitsind, tempo-
rär auf dieAusübung dieser verfasstenFreiheits-


rechte zu verzichten. Dies kann natürlich nur zeit-
lich begrenzt stattfinden, was uns ja von China und
anderen Diktaturen unterscheidet.
Staatliche Schutzmassnahmen und Sanktionen,
die fast ausnahmslos dieVolksgesundheit im Blick
haben, werden indes nicht ausreichen.Man kann eine
Gesellschaft nicht dauerhaft stillstellen, selbst wenn
das staatlich-politische Krisenmanagement von der
Mehrheit der Bevölkerung bis jetzt akzeptiert wird.
Staatsräson und einKonsens der demokratischen
Kräfte jenseitsdes üblichenParteiengezänks geben
noch denTon an. Selbst die schon halb verabschie-
dete Angela Merkel wird von den Deutschen wieder
mehr geschätzt.Die politischenRänder und poltern-
den, populistischenVerächter derrepräsentativ-par-
lamentarischen Demokratie sind kleinlauter gewor-
den, auch der üblichraue Ton in den sozialen Netz-
werken mässigt sich im Moment.
Es wird dennoch im Zuge dieser Krise zu gesell-
schaftlichen und politischenVerwerfungenkom-
men, die tiefer gehen werden als die bisherigen.
Man denke an das verheerende Gefälle zwischen
Stadt undLand, alter absteigender und neuer auf-
steigender Mittelschicht oder dieTabularasa im ge-
samten Sektor derKulturschaffenden ausKunst,
Musik, Literatur undWissenschaft, die nicht staat-
lich abgesichert sind.Damit müssen wir uns ohne
Denkverbote undTabus offen und ehrlich aus-
einandersetzen.Auch wenn die Corona-Krise im
Moment nochalte gesellschaftliche und politische
Konfliktlinien scheinbar eingefroren hält, werden
sie noch vor dem Ende der Krise wieder hervor-
treten. Im Ausnahmezustand tritt der Streit zwar
zurück.Aber ohne diesen gibt es auchkeinenWett-
bewerb der Ideen undkein produktives Ringen um
die besten Lösungen.
Eine wachsendeFaszination für einen starken
Staat und autoritäreFührerkonnten wir schon vor
der Corona-Krise beobachten.Tatsächlich scheint
China, dem wir durch seine anfänglicheVer-
tuschungspolitik dieVerbreitung desVirus verdan-
ken, mit seinen rigid-diktatorischen Massnahmen
erfolgreich in derVerlangsamung und Eindäm-
mung zu sein. Und von westlichen Krisenmanagern
hätte man sich einähnlich beherztesVorgehen wie
in Südkorea undTaiwan gewünscht.
SebastianKurz und Markus Söder wiederum
haben mit ihren klaren Ansagen und Umsetzun-
gen Pilotfunktion und sorgen dafür, dass das ab-
handengekommeneVertrauen in dieVolksparteien
womöglichwieder wachsenkönnte. Was bleibt den
Bürgern denn im Moment, als ihren gewählten
Vertretern, der staatlichenAdministration, dem
Funktionieren der Institutionen, demRechtsstaat
und den medizinischen Experten zu vertrauen?
DochVertrauen kann ganz schnell wieder schwin-
den , wenn derAusnahmezustand und diesoziale
Distanzierung zu lange währt, die Gesellschaft sich
nicht lebendig austauschen, streiten und verständi-

gen kann und auf internetbasierte und fernmünd-
licheKommunikation eingeschränkt ist.Das leis-
tet der Entstehung von Blasen, ideologischen Ge-
sinnungslagern und altbekanntenPolarisierungen
erneutVorschub.
Die vor der Corona-Krisekonstatierte Erosion
des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist ja nicht
plötzlich verschwunden. Die Schockstarre über-
deckt nur, dass die Gesellschaften in den letzten
Jahren in immer neueKollektive zersplittert sind,
die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämp-
fen und mit ihrer teilweise rigiden fundamentalisti-
schen Identitätspolitik für eine weitereFragmentie-
rung der Gesellschaft gesorgt haben. Vergessen wir
nicht die Opferkonkurrenzen zwischen ethnischen,
religiösen und sexuellen Minderheiten, die unsere
Debatten bis eben geprägt haben, die ständige Nei-
gung zu moralisieren und den politischen Gegner
damit zu delegitimieren.

Konflikte müssenausgetragen werden


Erinnern wir uns an den miserablen Zustand der
Volksparteien, die Selbstgefälligkeit einer abge-
hobenen politischenKlasse, ihreReformunwil-
ligkeitund ihr Zögern, beherzt den Herausforde-
rungen zu begegnen – die geistige Entleerung der
Mitte. Es kannalso nur besser werden. Es wird nach
dieser Krisezumindest einen Digitalisierungsschub
geben,auch dies lang angemahnteVersäumnisse.
Allerdings sollten wir nicht demWunschtraum er-
liegen, die altenPolarisierungen würden mit dieser
Krise weggefegt werden und die Demokratie und
ihre Institutionen, dieParteien wie die Zivilgesell-
schaft würden sich im Zuge ihrer Bewältigung un-
beschadet wie der Phönix aus der Asche erheben.
Auch ein neuer Gemeinsinn wird nicht so expo-
nentiell ansteigen wie dieKurve der Ansteckung
mit demVirus – auch wenn wir ihn dringend
brauchten.Vielleichtlernen wir zumindest, unsere
Freiheiten wertzuschätzen, dasWichtigevomUn-
wichtigen zu unterscheiden.Westlicher Selbsthass
und die Geisselung der Globalisierung führen hin-
gegen in die Sackgasse.
Die Austragung vonKonflikten, die Pluralität
der Meinungen und Interessen, dasAustarieren
von Gemeinsinn und individuellerFreiheit zeich-
nen unsere liberalen, offenen Gesellschaften aus.
Deshalb müssen wir nicht erst nach der Krise, son-
dern jetzt überFehler und neue Ideen streiten.Wir
müssen die Meinungsfreiheit mutig praktizieren,
um zu den besten Lösungen zu gelangen.

Ulrike Ackermann,Politi kwissensc hafterin und Sozio-
login , ist Direktorin des John-Stuart-Mill-Institu ts für Frei-
heitsforsch unganderHochschuleHeidel berg.Jüngstvon
Ihrersc hienen:«DasSchweigenderMitte–We geausder
Polari sierungsfalle». WBG Darmstadt,2020.

Westlicher Selbsthass


und die Geisselung


der Globalisierung


führen in die Sackgasse.

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