Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

14 MEINUNG &DEBATTE Mittwoch, 25. März 2020


INTERNATIONALE AUSGABE


Keine Schliessung der Indust riebetriebe


Nicht Profitgier, sonder n Verantwortung


Für die Präsidentin der GewerkschaftUnia, Vania
Alleva, sind dieTessiner die Einzigen, die es be-
griffen haben. Alleva forderte, dass es alle dem
südlichsten Kanton nachmachen und eine völlige
Schliessung von Industriebetrieben undBaustel-
len, ja der ganzenWirtschaft, verordnen.Wenn
man sich draussen anstecken kann, sollen alle zu
Hause bleiben,und der Bund zahlt den Lohnaus-
fall. Ist also ein profitgierigerMenschenveräch-
ter, wer diese Ansicht – zusammen mit denFach-
leuten des Bundes – nicht teilt? Mitnichten!
Bei aller Angst vor dem Coronavirus tritt zu sehr
in den Hintergrund, dass jede Massnahme auch
Opportunitätskosten hat.Wenn ein Heizungstech-
niker nicht mehr loszieht, um die in einemWohn-
block ausgefallene Heizung zureparieren, ver-
mindert er damit wohl dieWahrscheinlichkeit ein
klein wenig, dass er sich selber mitdemVirus an-
steckt. Gleichzeitig steigt aber dieWahrscheinlich-
keit deutlich, dass die Bewohner des unbeheizten
Mehrfamilienhauses anVerschiedenem erkranken.


Die Industrie in der Schweiz ist hochspezia-
lisiert. EineFirma stellt Beatmungsgeräte her.
Dazu braucht sie Schläuche,die eine andere
Firmaproduziert, und Elektromotoren, die wie-
derum von einer anderen stammen.Wenn nur
einer dieser Betriebe schliessen muss, dann wer-
den weniger Kranke beatmet werdenkönnen.
Naiv ist auch die offensichtlich vielerorts verbrei-
teteVorstellung, allekönnten zu Hausesitzen, und
das Lebensnotwendige sei in jedemFall gewähr-
leistet.Ja, derBäcker bäckt glücklicherweise wei-
ter Brot.Aber er braucht dazu Mehl, das in Mühlen
hergestellt wird. Einer der wichtigsten Produzenten
dieser Mühlen ist die Ostschweizer Industriefirma
Bühler. Bleiben deren Techniker alle zu Hause,
wenn irgendwo ein Problem auftaucht, dann wird
über kurz oder lang auch das Brotbacken schwierig.
Es gibt eben nicht «die Gesundheit» und «die
Wirtschaft», die im Gegensatz zueinander stehen.
DieWirtschaft istTeil der Gesellschaft.Ärzte, Pfle-
ger und Apotheker nehmen, um ihreVerantwor-
tung wahrnehmen zukönnen, Kranken zu helfen,
eine gewisse,leicht erhöhteWahrscheinlichkeit
in Kauf, selber an dem gefürchtetenVirus zu er-
kranken. Gar nicht so unterschiedlich ist dieLage
beiBäckern, Servicetechnikern und Arbeitern,
die Industrieautomaten bedienen oder in einer
Fabrik zur Produktion von Medikamenten tätig

sind. Sie gehen ihrer Beschäftigung weiter nach,
damit dieWirtschaft in dieser Krise nicht zum völ-
ligenStillstandkommt, selbst wenn sich dadurch
das Risiko leicht erhöht, dass sie sich selber anste-
ckenkönnten.Das ist nicht ein Zeichen von men-
schenverachtender Profitgier, sondern von solida-
rischerVerantwortung. Denn ohne dasFunktionie-
ren all dieser Betriebe wären die Gesundheit und
dasWohlergehen vieler noch viel akuter gefähr-
det.Das kannkein noch so grosses Hilfspaket des
Bundes ersetzen.
Zumindest was die letztenJahrzehnte be-
trifft, hat dieWelt einePandemie in diesemAus-
mass noch nie erlebt. Es geht deshalb darum, in
der Unsicherheit und mit vielen Unbekannten
einenWeg zu suchen, der die gesundheitlichen
und wirtschaftlichen Kosten möglichst mini-
miert.Wenn diejenigen, die das einigermassen
problemloskönnen, von zu Hause aus arbeiten,
hilft dies, das Gesundheitssystemnichtzu über-
fordern. Und alle diejenigen, die es draussen
braucht, sollten unter den gebotenen Hygiene-
und Sicherheitsbedingungen weiterhin arbei-
tenkönnen. Der Bund hatrecht, wenn er dar-
auf pocht und dasTessin mit seinem generellen
Verbot zurückpfeift. Selbst wenn die Gewerk-
schaftspräsidentin Alleva davon träumt: Ein völ-
liger Stillstand wäre rücksichtslos.

Einfluss auf dem Balkan


China stellt Europa in den Schatten


Es war ein bizarrerAuftritt, als derserbische Prä-
sident AleksandarVucic am15. März denAus-
nahmezustand erklärte. Tr änen in denAugen, zwi-
schenRührung undWut schwankend, rief er die
Bürger auf, zu Hause zu bleiben.Dann setzte er
nach: Der europäischeTr aumsei ausgeträumt.
Jetzt, in der Zeit der Not, sei es klar. «Es gibtkeine
Solidarität Europas. Es ist ein Märchen aufPapier.»
DieEUsitze auf ihren Medikamenten und dem
Material, das vor demVirus schützen soll. Helfen
könne jetzt nur einer: «Ich habe einen Brief an Xi
Jinping geschrieben, ich habe ihn nichtFreund ge-
nannt, sondern Bruder, nicht meinen persönlichen
Freund, sondern denFreund und Bruder meines
Landes. Nur China kann uns helfen!»
Ist das die Abwendung des wichtigstenLan-
des auf demWestbalkan von der EU?WirdSer-
bien zum Einfallstor chinesischer Interessen an der
Grenze der Union?Für ein Urteil ist es zu früh.
Aber die gewaltige Steigerung des chinesischen


Einflusses auf den ganzenBalkan ist eineTatsache.
Und sie hat eineVorgeschichte. Wie es weitergeht,
hängt vomAusgang der gegenwärtigen Krise ab.
Seit übereinemJahrzehnt hatte die Integra-
tion derRegion in die EU vor sich hin gedümpelt.
Weder die autokratischenRegierungschefs der ein-
zelnenLänder noch die desinteressierten EU-Staa-
ten hatten und haben ein echtes Interesse daran.
Die EU will die armen und schwierigenLänder
eigentlich nicht dabei haben.Aberebenso wenig
möchte man ihnen dieTürevor der Nase zuschla-
gen.Aus Angst, dass dann der EinflussRusslands,
derTürkei und – eben – Chinas zu gross werde.
Die Corona-Krise wirkt jetzt als ein Katalysator.
Die Prozesse werden beschleunigt und zugespitzt:
Hier werden aus kleinen Rissen tiefe Spalten, dort
aus vorsichtigen Annäherungen feste Bündnisse.
China istkein Neuling auf demBalkan. Seit
vielenJahren ist es mit seiner Belt-and-Road-Ini-
tiative in derRegionaktivund füllt das (gefühlte)
Vakuumauf, das die zaudernden Europäer hinter-
lassen haben.Peking baut die marode Infrastruk-
tur aus. In Piräus wurde der Hafen erneuert, Hoch-
geschwindigkeitszüge und Schnellstrassen sollen
schon bald Montenegro mit Serbien, Belgrad mit
Budapest verbinden. Die Staaten verschulden
sich dabei tief. Und die lokaleWirtschaft profi-

tiert kaum, denn die Chinesen führen dieAufträge
mit ihren eigenenFirmen aus. Dennoch: «Bruder
Xi Jinping» ist jetzt der Mann derTat. Frauvon der
Leyen ist für die schönenWorte zuständig.
DerKontrastkönnte nicht grösser sein.Während
Tschechien Lieferungen von Schutzmasken an Ita-
lien für sichabzweigt und die europäischenLänder
Schutzmasken und Beatmungsgeräte horten, landet
in Athen der Flug CA863 und bringt chinesische
Hilfsgüter; chinesischeFirmen spenden in Belgrad
Hunderttausende von Masken. ImFernsehen sieht
man das chinesischeFahnenmeer undVucic, der die
«stählerneFreundschaft» hochleben lässt.
Bis vor kurzem galt: Zur Anbindung an die EU
gibt eskeine Alternative für dieBalkanländer. Wo
eskeine Alternative gibt, braucht esauchkeine
Politik, sagte sich die EU und liess die Zügel schlei-
fen.Auch von chinesischer «soft power» hielt man
wenig,angesichts der engen personellenVerbin-
dungen desBalkans mit demWesten. Diese Ge-
wissheitenkommen jetzt insWanken.
Aus der Sicht derRegion ist dasAufkommen
eines Gegenspielers ein Gewinn. Denn an die
Stelle der Abhängigkeit von der EU rückt ein
Wettbewerb. Brüssel und den Hauptstädten sollte
er vor allemWeckrufsein, sich wieder stärker um
die Nachbarn im Südosten zu kümmern.

SEITENBLICK


Alles abgesagt


Von KONRADPAUL LIESSMANN

Bis auf weiteres ist alles abgesagt:Theater und
Konzerte, Opernpremieren undFilmfestivals,
Vorträge undVorlesungen,Vernissagen und
Diskussionen, Lesungen und politische
Debatten, Demonstrationen und Proteste. Vom
Sport sprechen wir erst gar nicht. Und darüber
hinaus werden alle möglichen und unmög-
lichenTermine, die man für unabdingbar hielt,
einfach gestrichen. Wir gestehen, dass wir dem
im erstenAugenblick sogar etwas abgewinnen
konnten.All diese lästigenVerpflichtungen, die
man sich irgendwann einmal eingehandelt
hatte und denen man nur nachkommen wollte,
weil die passendeAusrede fehlte –kein
Problem: Sie werden einfach abgesagt. Diese
quälendenFragen, welchem Event man am
Abend denVorzug geben muss, welcher
Einladung man unbedingt folgen sollte,
welches Ereigniskeinesfalls versäumt werden
darf –kein Problem:Alles abgesagt.Wir
machen in diesen Zeiten die paradoxe
Erfahrung, dass der Stillstand des gesellschaft-
lichen und das Einfrieren des individuellen
Lebens mitunter entlastend wirkenkönnen.
Ein bitterer Beigeschmack aber bleibt.
Ähnliches gilt für die verordneteKontem-
plation in deneigenen vierWänden. In
schwachen Stunden hatten wir diese lange vor
Ausbruch derPandemie propagiert und uns
danach gesehnt, einigeWochenkonzentriert
und ohne Ablenkung am Schreibtisch sitzen
zukönnen oder die ungelesenen Bücher der
eigenen Bibliothek endlich ihrer vornehmsten
Bestimmung zuzuführen.Jetzt ergibt sich
erzwungenermassen die Möglichkeit dazu,
doch so richtig froh kann man darob nicht
sein. Sich aus freien Stücken in eine Schreib-
klausur zu begeben, ist etwas anderes als eine
dramatische Situation, in der uns nicht viel
mehr bleibt als der Schreibtisch. Dierechte
Freude, die intensiveKonzentration, die Lust
an derFormulierung will sich nicht einstellen.
Angesichts desVerhängnisses lässt sich nicht
einfach so tun als ob. Über allem liegt ein
Schatten. Und ein schlechtes Gewissen:Dürfte
man überhaupt noch unbefangen Hölderlin
lesen, Beethoven hören?Das ist bedrückend.
Dasich für die aufgeschobenenWerke der
Weltliteratur die notwendige Musse nicht
einstellen will, lesen wir Zeitung. Mit Erstau-
nenverfolgen wir, wenigeTage nach der
Verkündigung desAusnahmezustands, wie sich
dieKollegenschaft zu einer grossen Diagnose
über jene Zeitenwende aufschwingt, die das
Coronavirus angeblich ermöglicht oder
erzwingt.Dass auch diese Krise eine Chance
sei – wer hätte das gedacht?Dass danachalles
anders sein werde und der westliche Mensch,
der gerade dieVorzüge der virusbedingten
Umwertung allerWerte erfährt, in Hinkunft
auf Beschleunigung, Fernreisen, Umweltzer-
störung, globale Produktionsketten, oberfläch-
lichen Lifestyle und unnötigenKulturstress
verzichten werde – wer soll das glauben?
Von solchen Krisen die grosseLäuterung
zu erwarten und imVirus einen geheimen
Kombattanten im Kampf um die bessereWelt
zu sehen, ist eine eigenartige Mischung aus
geschichtsphilosophischem Zynismus und
romantischer Utopie. Nicht viel anders verhält
es sich mit den dystopischenVarianten, die in
den nun verordneten Massnahmen gleich die
Aufhebung der Grundrechte und das Ende
der Demokratie erkennen wollen. Ironischer-
weise sehen andere in diesen Einschränkun-
gen den Beweis dafür, dass Demokratien sehr
wohl in derLage sind – was man ihnen gerne
abgesprochen hat –,in Notsituationenrasch,
mit Härte und zielorientiert zu agieren.
Manche träumen schon davon, dass die
Rettung des Klimas so funktionierenkönnte.
Wir beenden nachdenklich die häusliche
Lektüre unserer E-Papers. Vielleicht sollte
man, wenn ohnehin alles abgesagt wird,
diesem Hang zu voreiligen und gar vollmundi-
gen Spekulationen ebenfalls eine Absage
erteilen. Nur zu oft machen wir dabei nämlich
dieRechnung ohne denWirt: dieVergesslich-
keit des Menschen.

Konrad Paul Liessmannist Professor für Methoden
der Vermittl ung von Philosophie und Ethik an der Uni-
versität Wien.

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