Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

16 FEUILLETON Mittwoch, 25. März 2020


INTERNATIONALE AUSGABE


Die Corona-Krise trifft die Literatur hart


Aber es wäre ja gelacht, wenndie Autoren keine Auswege fänden. Sie schreiben Krisentagebücher. Und vielleicht schon Corona-Romane


PAUL JANDL


Das ging schnell. Seit ein paarTagen
erst sitzt die Menschheit aus epidemio-
logischen Gründen in ihren Behausun-
gen, da stellt sich die Literatur die un-
angenehmeFrage, ob sie fürAusnahme-
situationen wie diese nicht zu lang-
sam ist. «Alles, was ich jetzt schreibe,
ist eigentlich schon veraltet», muss die
österreichischeAutorin KathrinRöggla
in der «FAZ» einbekennen.«Was heute
dementiert wird, ist morgenRealität.»
In Rögglas klugem Essay geht es
nich t nu r darum,wie unsere Wahr-
nehmung derWirklichkeit gerade den
Boden unter denFüssen verliert, son-
dern auch um die Geschäftsgrundlage
der Literatur:Wie kann man die jetzige
Hyperaktualität abbilden? Und wenn
man es jetzt nicht kann, wird man es je-
malskönnen?Wird es eine Welle von
Corona-Romanen geben? Besser nicht.
Die Corona-Krise trifft die Litera-
tur hart. Alle Lesungen wurden abge-


sagt, die Buchhandlungen geschlos-
sen. Wer jetzt einWerk auf den Markt
bringt,kann nur hoffen, dass es auf
Wegen kreativer Selbstorganisation zu
den Lesern findet. Unübersehbar aller-
dings und vielleicht sogar bald unüber-
schaubar ist die Zahl derWerke, die es
ohne Covid-19 gar nicht gäbe. Die ers-
ten Kapitel von Corona-Romanen fin-
den sich genauso in denFeuilletons wie
literarische Corona-Tagebücher. Auch
die Literaturhäuser machen mit.
Das Aargauer Literaturhaus Lenz-
burg lässt eine ganzeReihe vonAutoren
an einem gemeinsamenRoman schrei-
ben.In derFolge 1 erfindetJaroslav Ru-
diš einen Marathonläufer, der in eine
Zelle gesperrt ist. «DerTyp läuft in sei-
ner Bude den ganzenTag vonWand zu
Wand, fünf Meter in die eine Richtung,
fünf Meter in die andere. Den ganzen
Tag lan g.» Das ist schon ein fast über-
deutliches Bild der Quarantäne.
Auch wenn die Schriftstellerkeine
Marathonläufer sind:Wohin mit der

Kraft und der Kreativität?Wohin mit
derVerzweiflung?Das Lenzburger Lite-
raturhaus stellt auch dieKrisentage-
bücher vonPeter Stamm und Dorothee
Elmiger online. Es sind Miniaturen vom
Leben auf kleinstemRaum, die zeigen,
dass die Schriftsteller jetzt nicht wissen,
woh in mit sich. Seine Gefühle möchte
Peter Stamm wie «einRezept beschrei-
ben»: «Man nehme etwas Sorge, etwas
Nervosität, etwasVerwunderung, ziem-
lich viel Unruhe, ein paarVorahnungen,
Unentschlossenheit, Antriebslosigkeit
und doch auch eine Prise Zuversicht.»
Dorothee Elmiger fährt aufsLand zu
den Eltern und findet sich in ihrem
Kinderzimmer wieder. Die Fahrt dort-
hin war ein Nachdenken darüber, wer
alles jetzt nicht mehrreisen kann oder
darf. Elmigers Satz zum Supermarkt-
Suspense in Covid-19-Zeiten: «Jemand
hustet in der Nähe des Brots.»
In den Corona-Tagebüchern des
Grazer Literaturhauses, die wöchent-
lich aktualisiert werden,erfährt man,

dass sich Ann Cotten für die nächsten
Wochen in einemWiener Schreber-
garten eingemietet hat.Wenn es denn
stimmt,wäredasindieserJahreszeiteine
luxuriöseFormderSelbstisolation.Vale-
rieFritschkommtangesichtsderLagezu
demSchluss:«Niekannmanglaubwürdi-
ger und ungestrafter und huldvoller sa-
gen als imAusnahmezustand: Alles wird
gut, und so manch einer scheint nur dar-
auf gewartet zu haben, dass es endlich
schlecht genug ist.»
GesellschaftlichePerspektiven wie
diese mischen sich in denTagebüchern
mit der Kleinteiligkeit des Privaten.«Das
Jetzt ist hinter den sieben Schleiern des
Alleinseins verborgen», schreibtJulya
Rabinowich,während Monika Helfer an
ihre sechsundneunzigjährige «Lieblings-
schriftstellerinFrau Mayröcker» denkt:
«Ich rufe ihr zu: Du schaffst es, rock wei-
ter !» Thomas Glavinic, einer der jungen
Altrocker der österreichischen Litera-
tur, erzählt in einem für dieTageszeitung
«DieWelt» entstehenden Corona-Ro-

man, dass er die Krise fast verpasst hätte,
weil er ohnehin wiein Quarantäne lebt.
«Das kann auch nur mir passieren: Ich
lasse dieWelt aus denAugen, und wenn
ich wieder hinsehe, herrschenFinanz-
chaos, Pandemie undAusgangssperre.»
Vor vielenJahren hat Glavinic denRo-
man «Die Arbeit der Nacht» geschrie-
ben. Darin geht es um einen Mann, der
plötzlich bemerkt, dass dieWelt ausge-
storben ist.Ausser ihm istniemand mehr
auf derWelt.
Keine Frage: Literatur entsteht auch
während besserer Zeiten in Arbeits-
situationen, die der Quarantäne ähn-
lich sind. Siekommt aus einem freiwil-
ligenRückzug, der den Blick schärfen
kann für das, was draussen in derWelt
vorgeht. Was die Literatur allerdings
aus der unfreiwilligen Distanz machen
kann, aus einer verschärftenForm der
Ungleichzeitigkeit, wird sich erstall-
mählich zeigen.Was man jetzt hört, ist
ein Signal derVerunsicherung. Ein Ru-
fen im digitalenWald.

Giorgiones Venus räkelt sich in sinnlichem Rot

Dieaufwendig sanierte Dresdner Gemäldegalerie vereint künstlerische, kuratorischeund technologischeWeltklasse


FRANZ ZELGER, DRESDEN


«MeineVerwunderung überstieg jeden
Begriff», schrieb Goethe in Erinne-
rung aneinen Besuch inder Dresd-
ner Gemäldegalerie. UndJacob Burck-
hardt war überwältigt «ob der Masse
des Herrlichen». Das geht uns heute ge-
nauso. Die Qualität derKunst in die-
sem Haus, das umfassende, siebenJahre
dauernde Sanierungsarbeiten hinter sich
hat, sind von Weltrang.
Die Anfänge der Galerie liegen in
der Kunstkammer desKurfürstenAu-
gust von Sachsen,dessen Sammeltätig-
keit 1560 einsetzte. Doch erstAugust
der Starke hat die Bestände in grossem
Stil erweitert und die Gemälde in einem
eigenenRaum im Schloss unterbrin-
gen lassen. Der Umfang der Ankäufe
durch seinen SohnAugust III. überstieg
schliesslich jedes bis dahin gekannte
Mass. Allein1741/42 fanden 715Werke
den Weg in dieKollektion.1754 gelang
es nach langem Bemühen, mitRaffaels
«Sixtinischer Madonna» ein Hauptwerk


der Renaissance zu erwerben – bis heute
der Publikumsmagnet der Galerie.

Prunkvollegoldene Rahmen


Das rapideWachstum der Sammlung
verlangte nach einer geeigneten Unter-
bringung, wofür sich zunächst das ehe-
malige kurfürstliche Stallgebäude am
Neumarkt anbot. Mit dem Entwurf für
ein autonomes Museum, das den Erfor-
dernissen des19. Jahrhunderts entspre-
chen sollte, wurde dann Gottfried Sem-
per beauftragt. Der imposante Gale-
riebau im Stil der italienischen Hoch-
renaissance begrenzt den Zwinger nach
Nordosten zur Elbe hin. Noch vor Be-
ginn des ZweitenWeltkriegs erfolgte die
Schliessung des Museums. Die Kunst-
werke wurden ausgelagert, erst 1956
konnte das Haus wiedereröffnet wer-
den, nachdem die bei Kriegsende in die
Sowjetunion abtransportierten Schätze
an die DDR übergeben worden waren.
Klimatische und sicherheitstechni-
sche Anforderungen machten ab 2013

Sanierungsarbeiten notwendig. 50 Mil-
lionen Euro war dies demFreistaat
Sachsen wert. Mit zusätzlichen Spen-
denbeiträgen wurde die raff inierte
Akzentbeleuchtung finanziert. Eine
neue Dreifach-Fensterverglasung mit
hohemFarbwiedergabe-Index ermög-
licht es, natürliches Licht in dieRäume
fliessen zu lassen. ZuRecht wurde die
für das Haus charakteristische Dresd-
ner Hängung wieder aufgegriffen – die
Exponate sind mehrreihig übereinander
plat ziert. Auch sind 45 Gemälde grund-
legendrestauriert worden, weitere 162
in kleinerem Umfang. Zum prächtigen
Erscheinungsbild derRäume trägt die
Restaurierung der goldenen barocken
Rahmen bei.Auch diese bilden ein Er-
kennungsmerkmal der Dresdner Alt-
meister-Bestände.
Thematische Einheit ist charakte-
ristisch für die einzelnenRäume. Dies
verdankt sich den grossen geschlosse-
nen Werkkomplexen der Sammlung.
Erwähnt seien die riesigen Altarbilder,
die Venezianer, die f ranzösischen Cara-

vaggisten, die holländischen Stillleben
oderPastelle aus dem18. Jahrhundert
mit Liotards «Schokoladenmädchen»
als Blickfang. Glanzlichter bilden fer-
ner diereichen Bestände von Cranach,
van Dyck undRubens.Tizians «Zinsgro-
schen» wird von frühen Italienern flan-
kiert, und Giorgiones«Venus» ist ein
Höhepunkt imVenezianer-Saal.
Die farbigen Wandbespannungen
evozieren sinnlicheFestlichkeit:Rot für
die Italiener, sattes Blau für dieFranzo-
sen und Spanier, Grün für Niederländer
und Deutsche. Selbst dasTreppenhaus
wurderot gestrichen, was dieWirkung
von MichelangelosReliefs steigert.
Neu ist die bedeutende Skulpturen-
sammlung in das Gebäude eingezogen
mit herausragendenWerken vom Alter-
tum bis zum Klassizismus. Darunter fin-
den sichFilaretes «MarcAurel», eine
stark verkleinerte Kopie des gros-
sen Reiterstandbildes aus Bronze in
Rom, die älteste bekannte Nachbildung
einer antiken Grossplastik. Ein weite-
res Glanzstück ist der energiegeladene

«Dresdner Mars» von Giambologna,der
mit staatlicher Hilfe vor einemVerkauf
ins Ausland gerettet werdenkonnte.
Die hochkarätige Antikensammlung
ist in der prachtvoll gestalteten Halleim
Erdgeschoss, der früherenRüstkammer,
wirkungsvollin Szene gesetzt, wobei
das Tageslicht von beiden Seiten auf die
marmorne Götterwelt und die Satyrn
fällt.DenAbschluss diesesLängsraumes
bilden die drei in sich ruhenden weib-
lichen Bildnisstatuen aus Herculaneum,
genau ein Stockwerk unterhalb vonRaf-
faels «Sixtinischer Madonna» platziert.

Der Wettst reit derKünste


Nicht nur im Skulpturensaal im ers-
ten Obergeschoss stehen Marmor-
werke und Kleinbronzen ausRenais-
sance undBarock, sie finden sich auch
zwischen den Gemälden und treten mit
diesen in einen spannungsvollen Dia-
log. Da lebt derParagone wieder auf,
der alteWettstreit um denVorrang von
Skulptur oder Malerei.Hier geht es
allerdings nicht mehr um dieRangord-
nung derKünste, vielmehr erfreut das
inspirierende Nebeneinander von er-
lesener Bildhauerkunst und Malerei.
Ein Paradebeispiel ist die Zusammen-
führung von Andrea del Sartos «Opfer
Abrahams» von1530 mit einer kleinen
Bronzereplik derLaokoongruppe, von
der sich der Maler bei derDarstellung
des von einer Schlange umwundenen
Knaben anregen liess.
Die Kopie eines HerkulesFarnese
aus dem 17. Jahrhundert gesellt sich
zu Rubens’ betrunkenem Herkules.
Schmunzelnd gewahrt man hinter dem
weinenden Knaben von Hendrick de
Keyser den gegen alleRegeln der klas-
sischen Historienmalerei verstossenden
pinkelnden kleinen Ganymed vonRem-
brandt, dessen Gesichtszüge deKeysers
Marmorköpfchen zitieren.
Von diesem Standort aus führt der
Blick über die gut hundert Meter lange
Sichtachse zu den beiden Engelchen
am unteren Bildrand der «Sixtinischen
Madonna», die sich imLaufe der Zeit als
Verkaufsschlager verselbständigt haben.
Einzigartigist schliesslich derSaal mit
den DresdnerVeduten Bellottos, wo sich
die gemaltenAbbilder der Stadt und das
reale heutige Stadtbild begegnen.Die
Semper-Galerie zählte seit je zur Spit-
zenliga europäischer Altmeistersamm-
lungen. Die Sanierung hat ihrenRang
für die Zukunft gesichert.

Zur Wiedereröffnung sin d fünf Publika tionen
erschienen: Museumsführer Galerie Alte Meis-
ter; Museumsführer zur Skulpturensammlung
bis 1800; «Restaurierte Meisterwerke»;
«Meisterwerke der Renaissance und des Ba-
rock» sowie der Prunkband «Glanzstücke».

Giorgione: «SchlummerndeVe nus», um1508/10, Öl auf Leinwand; 108,5×175 cm. HANS-PETER KLUT

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