Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

Mittwoch, 25. März 2020 FEUILLETON 17


INTERNATIONALE AUSGABE


«Senizid» heisst das Wort der Stunde

Das Co ronavirus wirkt altersdiskrimini erend. Was heisst das für moder ne Demokratien?Von Niall Ferguson


Das Word «Genozid» – die Ermor-
dung eines Stammes oder Volkes–
ist in aller Munde. Es wurde1944 von
Raphael Lemkin geprägt, einem polni-
schen, vor den Nazis geflohenenJuden,
dessenFamilie im Holocaust fast ausge-
löscht wurde.Das Wort «Senizid» hin-
gegen – die Ermordung der Alten – ist,
obwohl älteren Ursprungs, weniger be-
kannt.Laut Oxford English Dictionary
wurde es erstmals vom viktorianischen
Entdecker Sir Henry HamiltonJohns-
tonverwendet. «Die Bewohner Sardi-
niens», schrieb er1889, «sahen es einst
als heilige Pflicht der jungen Menschen
an, ihre altenVerwandten zu töten.»
LemkinsWort setzte sich durch. Die
Generalversammlung der Vereinten
Nationen verabschiedete1946 nicht nur
eineResolution ohne Gegenstimmen,
die den Genozid verurteilte. ImJahre
1948 hat sie auch – erneut einstimmig–
ein Abkommen zur Unterbindung und
Bestrafung des Genozids gebilligt.
Obwohl Amerika dieses Abkommen
erst 1985 ratifiziert hat, nahm dieVer-
wendungdes Begriffs baldexponentiell
zu. (Es widerstrebt mir gegenwärtig,
zu sagen, es sei «viral gegangen».)Wer
Genozid in eine Suchmaschine eingibt,
wird sich durchTausende von Einträgen
arbeiten müssen.
Das gilt nicht für Senizid. Bei Ama-
zon finden sich in der englischsprachigen
Welt nur zwei Bücher zu diesemThema:
«T he Customary Practice of Senicide.
With Special Reference to India by
Pyali Chatterjee», sowie «Death Clock
Ticking: Senicide, Ageism and Dementia
Discrimination in Geriatric Medicine by
ItuTaito». Letzteres ist noch nicht ver-
öffentlicht.Ach ja, da gibt es noch einen
absolut schauerlichen Song namens «Se-
nicide» von der kalifornischen Heavy-
Metal-Band Huntress.
Das Wort wird noch in ein paar ande-
ren Büchern verwendet – fast überall in
Verbindung mit angeblichen Praktiken
früherer oder obskurer Stämme (die
Padaei Indiens, dieWotiakenRusslands,
die Hopiim frühen Amerika, die Netsi-
lik-Inuit Kanadas, die südafrikanischen
San-Stämme und die Bororos Amazo-
niens).Doch dasWort Senizidkommt so
selten vor, dass dieRechtschreibprüfung
von MicrosoftsWordesrot unterstreicht
und versucht ist, es perAutokorrektur in
«Suizid» zu verwandeln.


Doch all das verändert sich gerade.
Wenn eine erhebliche Zahl westlicher
Staaten, was immer wahrscheinlicher
zu sein scheint, mit der durch dasVirus
Sars-CoV-2 (das neuartige Corona-
virus, das im Dezember im chinesischen
Wuhan ausgebrochen ist) ausgelösten
Pandemieweiterhin falsch umgeht, dann
wird eine sehr grosse Zahl alter Men-
schen vor der Zeit sterben.
Die Statistiken sind eindeutig (Stand:
Sonntag,22. März 2020). In China, wo
die Epidemie im Moment unterKon-
trolle zu sein scheint, lag die Sterbe-
rate für diePersonen unter 50Jahren
bei 0,2 Prozent.Für diejenigen über
60 betrug sie 3,6 Prozent, bei Leuten
über 70 waren es 8 Prozent und bei den
über 80-Jährigen14,8 Prozent. In Ita-
lien – inzwischen dasLand, das von Co-
vid-19, der durch dasVirus verursachten
Krankheit, am schlimmsten betroffen ist


  • lagdie Sterberate fürPersonen über 70
    bisher bei 11,8 Prozent, bei denen über
    80 waren es18,8 und bei denen über 90
    21,6 Prozent.


Die JungenvordenAlten


In einer Hinsicht ist es ein Segen, dass
Covid-19 altersdiskriminierend zu sein
scheint. Die meistenPandemien sind
mit Kindern nicht so gnädig. In Ame-
rika beispielsweise starben während der
Influenza-Epidemie von1957/58 Kinder
unter 5Jahren mit einer höherenRate
als diePersonen über 64.Ausserdem ist
es eineTatsache, dass es nie zuvor in der
Geschichte so viele alte Menschen ge-
geben hat. Heute ist mehr als einVier-
tel der BevölkerungJapans 65Jahre alt
oder älter. 1960 lag der Anteil bei 5,
Prozent. In der EU hat sich der Anteil
von 10 auf 20 Prozent verdoppelt.Welt-
weit ist dieserWert von 5 auf 9 Prozent
gestiegen.
Und es ist auch eineTatsache, dass
Ärzte in einer überlasteten Klinik mit
unzureichender intensivmedizinischer
Versorgung aus utilitaristischer Sicht
richtig handeln,wenn sie stattderer,
die sich dem Ende ihres Lebensnä-
hern, bevorzugt dieJüngerenbehan-
deln. Ich mache den italienischen Ärz-
ten, die dieseForm derTr iage prakti-
ziert haben,keineVorwürfe.
Doch wenn diesePandemie ihren
Verlauf genommen hat – wenn wir als

Spezies «Herdenimmunität» erreicht
haben und wenn Impfstoffe wie auch
Therapien entwickelt sein werden –,
dann wird es erheblich mehr Bestattun-
gen von älteren Italienern und höchst-
wahrscheinlich auch Amerikanern und
Briten gegeben haben als vonTaiwa-
nern oder Südkoreanern. Der Grund
dafürist, dass ostasiatischeLänder aus
denverheerenden Erfahrungen mit Sars
imJahr 2003 die richtigenSchlüssege-
zogen haben, während die meisten west-
lichenLänder aus ihrerrelativ milden
Begegnung mit H1N1 – gemeinhin als
Schweinegrippe bekannt – imJahr 2009
zu den falschen Schlüssen gelangt sind.
Dass Covid-19 sowohl hochanste-
ckend (symptomlosePersonenkönnen
infiziert sein, und es wird überdies leicht
übertragen) als auch weit «tödlicher» ist
als die saisonale Grippe, war schon Ende
Januar 2020 offensichtlich,alsich an die-
ser Stelle über die aufziehendePande-
mie schrieb. Dennoch zauderten zahl-
reicheRegierungen – darunter die der
USA und Grossbritanniens – noch fast
zwei Monate.
Es war nicht allein DonaldTr umps
verantwortungslose Nonchalance, die
den Schadenverursachte. Gerade die
Organisationen, von denen erwartet
wird, dass sie unsere Länderauf eine sol-
che Gefahr vorbereiten, haben ebenfalls
Fehler gemacht.
In Amerika gab es skandalös wenige
Test-Kits, so dass dasLand in Hinblick
aufTests pro Einwohner noch letzte
Woche hinterWeissrussland undRuss-
land lag. ImVereinigtenKönigreich be-
ruhte diePolitik ursprünglich auf der
Vorstellung, dasLand würde besser da-
mit fahren, wenn es eine frühe Herden-
immunität anstrebte, anstatt dieAus-
breitung der neuen Krankheit einzu-
dämmen – bis Epidemiologen wie mein
Beinahe-Namensvetter NeilFerguson
(dem wiralle einerasche Genesung
wünschen müssen, weil er letzteWoche
Symptome entwickelt hat, die denen von
Covid-19 ähneln) auf die wahrscheinlich
katastrophalenFolgen hinwiesen.
Wegen dieser grobenFehler sind
Amerika und dasVereinigteKönigreich
viel zu langsam dazu übergegangen, die
Kombination aus Massentests, erzwun-
gener sozialer Distanzierung und der
Nachverfolgung vonKontaktpersonen
zu übernehmen, mit der dieAusbrei-

tung desVirus inLändern Asiens einge-
dämmt wurde. Es gibt einen Grund, wes-
halb dasVirus in Südkorea etwa 100 Op-
fer gefordert hat, während es in Italien
mehr als 40 00 sind.

Das Recht zumTöten


Wie viele Menschen werden am Ende
sterben?Wir wissen es nicht. In Ame-
rikakönnten wir, wenn sich die italie-
nischenVerhältnisse in NewYork und
Kalifornien wiederholen, am Ende die-
sesJahres ein halbe bis eine MillionTote
zählen. Es gibt Schätzungen, die 1,7 oder
gar 2,2 Millionen erreichen. Der für Bri-
tannien angenommene schlimmsteFall
belief sich auf 510 000 Tote. Der ent-
scheidende Punkt ist aber, dass die meis-
ten Opfer alte Menschen sein werden.
Und die meistenToten hätten mit bes-
sererVorbereitung und früherem Han-
deln vermieden werdenkönnen.
Der russische Historiker Nikolai Ka-
ramzin definierte Senizid im19. Jahr-
hundert als «dasRechtder Kinder, Ver-
wandte zu ermorden,die,durch Alter
und Krankheit überlastet, für dieFami-
lie zu teuer und für Mitbürger nutzlos
sind». Wie die Entdecker KnudRasmus-
sen und Gontran dePoncins berichteten,
war Senizid von den Netsilik auf King
William Island noch bis in die1930er
praktiziert worden.
Doch in den 2020ern wird ein Seni-
zid niemals toleriert werden, am aller-
wenigsten in modernen,entwickelten
Demokratien. Diejenigen, deren Unter-
lassungssünden und mangelhaft durch-
geführteAufgaben zu landesweiten Se-
niziden geführt haben, werden wie die
Täter der Genozide im 20.Ja hrhundert
streng verurteilt werden – nicht nurvon
der Geschichte, sondern auch vonWäh-
lern und ziemlich wahrscheinlich auch
von Richtern.

NiallFergusonistSenior FellowamZentrum
für europäische StudieninHarvard und forscht
gegenwärtig alsMilbank Family SeniorFellow
ander HooverInstitutionin Stanford, Kalifor-
nien. Der obenstehende Essay ist eine
Kolumne,die Fergusonfür die britische«Sun-
dayTimes» verfassthat –sieerscheint hier
exklusivimdeutschenSprachraum.Wir dan-
kender «Sunday Times»für dieMöglichkeit
des Wiederabdrucks.– Aus demEnglischen
übersetzt von Helmut Reuter.

Gedenkbänder imPark einer Pflegeeinrichtung im amerikanischenGliedstaat Washington, diebesonders von Covid-1 9-Erkrankungen betroffen ist. BRIAN SNYDER / REUTERS


SindSie


noch flexibel


oder schon agil?


Für mehr Menschenverstand
statt Managementsprech

CLAUDIA MÄDER

Es war in einer anderen Zeit,als ich
merkte, dass ich den Anschluss an die
Gegenwart verpasse. Es war in der Zeit,
in der man sich noch mit Menschen zum
Mittagessen treffen und zwischen zwei
Happen allerhand Neues aus anderen
Welten aufschnappenkonnte. Gelegent-
lichein Quinoa-Salat mit derFreundin
aus derBankenbranche, ab und zu eine
Pizza mit einem IT-Spezialisten oder ein
Sandwich mit derVersicherungsfachfrau


  • solche Begegnungen weiteten meinen
    Horizont und oft auch meinVokabular.
    Den Pitch zum Beispiel habe ich bei
    einem solchen Lunch aufgegabelt. Das
    Wort führeich zwar nicht oft im Mund,
    aber immerhin weiss ich dank diversen
    Vertiefungsgesprächen bei Espressi und
    Tartufi jetzt, was Consultants machen,
    die mit Out-of-the-Box-Ideen einen
    alten Business-Case challengen und ein
    Projekt zurImplementierung optimier-
    ter Prozesse pitchen, also anpreisen.
    Im Umgang mit den Core-Values des
    Management-Talks hielt ich mich folg-
    lich für ziemlich fit, aber fitreicht heute
    nicht mehr. «Wir machen jetzt alles
    agile», hörte ich jetzt immer öfter, und
    nein,das istkeinVerschreiber: In inno-
    vativen Bereichen arbeitet man heute
    wirklich «ätscheil». Hä? «Na,Ätschiliti,
    ist das bei dir dennkeinThema?»


LernenvondenHunden


Ja, doch, das Substantiv sagte mir etwas.
Ich meinte mich dumpf daran zu er-
innern, dass ich es von Hundekursen
kannte, und Google gab mirrecht: Mit
Agility-Programmen trainieren ambi-
tionierte Hundebesitzer ihreTiere noch
heute für Hindernisläufe. Sprünge über
Stangen, Slaloms rund umFähnchen,
Rennen überWippen – all solche Dinge
sind dank Agility zu erlernen.
Wie sich die hündischenFertigkei-
ten ins Businessumfeld übertragen las-
sen,konnten mir die Lunch-Friends vor
dem Shutdown nicht mehr richtig er-
klären. Bei Agility gehe es halt darum,
Flexibilität und Effizienz zuerhöhen,
auchTr ansparenz und Selbstorganisa-
tion seienKey-Concepts bei allem Agi-
len,und dabei gehe man meist iterativ
oder gar inkrementell vor.
Zu Deutsch: Es wird Schritt um
Schritt gearbeitet!Das habe ich begrif-
fen, als ich, denDuden in der Hand, der
Agilität endlich einmal nachging. Es ist
stupend, was man dabei für die jetzige
Zeit alles lernt.

Wendigbleiben,auch daheim


Dass es wichtig ist, aufVeränderungen
zureagieren und nicht an jedem Plan
festzuhalten – das wäre uns ohne Agile-
Leitlinie Nr. 4 doch wirklich niemals ein-
gefallen!Hätte ich den Grundsatz heute
nicht gelesen, wäre ich morgen gewiss
zur Buchung meiner jährlichen Italien-
ferien geschritten. Aber auch dass Inter-
aktionen entscheidender sind alsWerk-
zeuge, wie Leitlinie Nr. 1 besagt, zeigt
uns die jetzigeLage überdeutlich: Ob
wir über Skype, Festnetz oder Handy
telefonieren, ist doch einerlei – Haupt-
sache, wirkönnenreden miteinander.
Natürlich kann es beim Interagieren
vieler wendiger Individuen auch zuKol-
lisionenkommen,aber das soll uns nicht
sc hrecken: In Stadien fortgeschrittener
Agilität wird nämlich ein Scrum-Mas-
ter dafürsorgen, dass sich alle Agilisten
reibungsfrei aneinander vorbeischlän-
gelnkönnen.Auchden Englisch-Pons
habe ich glücklicherweise zur Hand:
Der Scrum-Master ist Herr über ein Ge-
dränge. Falls Ihr Home-Office also mit
Kindern und Haustieren gefüllt ist, soll-
ten Sie den Scrum-Master-Posten sofort
vergeben, das wird das innerfamiliäre
Zusammenagieren sicher fördern.
Wobei:Vielleicht würde es auch
reichen, ein bisschen Common Sense
zu propagieren.Laut Experten fürs
Management desLebens sind nämlich
recht viele Dinge mit gesundem Men-
schenverstand zu mastern.
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