Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

INTERNATIONALE AUSGABE


Mittwoch, 25. März 2020 SCHWEIZ 19


Der öffentliche Verkehr ist ausgedünnt –


was heisst das für dieZug-N ation Schweiz?SEITE 21


Viele Zürcher bleiben zu Hause – der Rückzug aus


dem öffentlichen Leben ist aber eher spät erfolgt SEITE 22


Studierende arbeiten imSpitalstatt imHörsaal


Die Initiative Students4Hospitals ermöglicht e s Studenten, sich dort zu engagieren, wo angesichts der Co rona-Krise Hilfe am nötigsten ist


ERICHASCHWANDEN


Die Expertenrechnen damit, dass die
Welle von Covid-19-Erkrankungen in
dieserWoche in der Schweiz anschwillt.
In den Spitälern bereitet man sich auf
einen grossen Ansturm vor. Gefragt ist
in dieser angespannten Situation jede
helfende Hand.
Die beiden ETH-Studierenden
Rahel Schmidt und Luca Schaufelberger
wollen angesichts der Krisenlage nicht
tatenlos zusehen und haben vergangene
Woche die Initiative Students4Hospitals
gegründet. Zusammen mit einem gros-
senTeam mit unterschiedlichenKom-
petenzen haben die Medizinstuden-
tin und der Student der Interdisziplinä-
ren Naturwissenschaften die Plattform
students4hospitals.ch geschaffen. Nach
einer knappenWocheVorbereitungs-
zeit ist die Plattformseit dem Montag,



  1. März, online.


Students4Hospitals bietetSpitälern
und anderen Institutionen aus dem Ge-
sundheitswesen eine Plattform, mit der
sie auf einenPool von Studierenden
zurückgreifenkönnen. Angesprochen
sindFreiwillige allerFachrichtungen,
die einen Beitrag zur Entlastung des
Gesundheitswesens leisten wollen. Das
Interesse bei den Studierenden im gan-
zenLand ist gross. Nach erstenAufru-
fen über Instagram haben sich schon vor
dem offiziellen Start 600 Studierende
für die Aktion angemeldet.

Nachfrageungewiss


Wie gross die Nachfrage nachFreiwil-
ligen bei den Spitälern ist, wird sich in
den nächstenTagen zeigen, wenn die
Kliniken ihre Bedürfnisse über dieWeb-
site anmeldenkönnen. Sowohl derAus-
tausch mit Institutionen des Kantons
Zürich wie auch der direkte Einblick

vor Ort der Medizinstudentin Schmidt
zeigten den steigenden Bedarf nach
Hilfeleistenden.
Infrage kommen unterstützende
Tätigkeiten, welche das Spitalperso-
nal entlasten. «Ein Einsatz ist mög-
lich inForm von simplenLabortätig-
keiten, administrativenAufgaben oder


  • bei entsprechender Erfahrung – Mit-
    hilfe bei der einfachen Pflege oder der
    Kinderbetreuung», so umschreibtPas-
    cal Broggi von der Initiative die Einsatz-
    möglichkeiten. Dieregistrierten Studen-
    tinnen und Studentenkönnen zu einem
    Maximalpensum von 50 Prozent und
    einer Mindestvertragsdauer von einem
    Monat eingesetzt werden. Die Initianten
    streben eine Entlöhnung der Studieren-
    den an, jedoch liege die Entscheidung
    bei den Institutionen.
    Damit die Spitäler die bestmögliche
    Unterstützung erhalten, übernimmt Stu-
    dents4Hospitals dieAuswahl der Studie-


renden auf Grundlage der von den Kli-
niken geforderten Qualifikationen. Die
Anforderungsprofile der Spitäler wer-
den mit denFähigkeiten und Einsatz-
gebieten derregistrierten Studierenden
abgeglichen,so dass diese schnell und
unkompliziert zu einsatzbereitenTeams
geformt werdenkönnen.«Dadurch ent-
fällt für die Institutionen aus dem Ge-
sundheitswesen ein Grossteil des admi-
nist rativen und organisatorischenAuf-
wands», erklärt Broggi.

Breite Unterstützung


Betreut und unterstützt wird die Hilfs-
aktion von ProfessorJörg Goldhahn,
dem stellvertretenden Leiter des Insti-
tuts fürTranslationale Medizin an der
ETH Zürich. Er koordiniert bereits jetzt
den SondereinsatzvonMedizinstudie-
renden in den Spitälern für die Kan-
ton e ohne eigene Medizinausbildung.

Die Bearbeitung und die Zuteilung der
Studierenden an die verschiedenen Spi-
täler werden durch dieTask-Force Spi-
talkoordination durchgeführt. Goldhahn
steht inKontakt mit den Kantonsärzten
und informiert diese über die Möglich-
keiten, welche die neue Plattform bietet.
Von offiziellerETH-Seite erhält die
Eigeninitiative Support. So hat dieETH-
Rektorin Sarah Springman ihre Unter-
stützung zugesagt. Einen wichtigen Bei-
trag im IT-Bereich leisten die Gründer
von Medison GmbH, einer Karriere-
Pla ttform für dasGesundheitswesen,
die im interdisziplinären Studierenden-
Team mitarbeiten. EinTeam um Lukas
Morscher von der Anwaltskanzlei Lenz
& Staehelin unterstützt die Initiative ge-
meinnützig bei juristischenFragen. Die
kommendenTage werden zeigen, wie
gross das Interesse unter den Studieren-
den ist und wie stark das Hilfsangebot in
den Spitälern nachgefragt wird.

Spitäler rekrutiere n für die grosse Welle


Ärzte und Pflegeperson al mit Corona-Befund und nur leichten Symptomen sol len nach 48 Stunden wieder zur Arbeit


ANGELIKA HARDEGGER


Die Schweizer Spitäler rüsten auf: Im
Tessinund in Genf werdenSpitalbetten
aufgestellt und Beatmungsgeräte an-
geliefert.«In eindrücklichemTempo»,
wieDanielKoch vom Bundesamt für
Gesundheit am Montag sagte. Doch
eine Frage wird immer drängender:
Wer steht an diesen Betten?Wer be-
dient die Geräte? Der Bundesrat hat
das Arbeitsgesetz für das Gesundheits-
personal ausser Kraft gesetzt. Aber das
wird nichtreichen.
Besonders kritisch ist die Situation
in der Grenzregion. Dort sind die Spi-
täler massiv auf Gesundheitspersonal
aus demAusland angewiesen. Am Uni-
spitalBasel ist jeder fünfte Angestellte
Grenzgänger. Selbst aus Italien, dem
mittlerweile am stärksten von derPan-
demie betroffenenLand, melden sich
pro Tag über 2000 Pflegepersonen und
Ärzte zum Dienst inTessiner Spitälern.
Was würde passieren, wenn die Nach-
barstaatenAusreiseverbote für Pflege-
personal oder Ärzte verhängen würden?
Anne Bütikofer, Direktorin des Schwei-
zer Spitalverbands H+, wählt deutliche
Wort: «Das wäre der Super-GAU.»


Hoffenauf offene Grenzen


Aus Italien sind bisherkeine Signale in
dieser Richtung erfolgt,wieDaniel Koch
am Montag sagte. Sorgen bereitet Beob-
achtern eherFrankreich. Der französi-
sche Staat hat in Krisensituationen das
Recht, die Bürgerinnen und Bürger zum
Dienst im eigenenLand zu verpflichten.
Dem Genfer Universitätsspital HUG
würde in diesem Szenario mehr als die
Hälfte des Pflegepersonals wegfallen.
Bei den Ärzten wären es17 Prozent.
DieWahrscheinlichkeit eines fran-
zösischenRückrufs scheint eher gering.
DerPressechef des Genfer Universitäts-
spitals sagt, der französische Botschaf-
ter habe beruhigende Signal gesen-
det.Das Eidgenössische Departement
des Innern schreibt, Bundespräsidentin
Simonetta Sommaruga sei inregelmässi-
gemKontakt mit denRegierungen der
Nachbarländer. Es gebe einenKonsens
darüber, dass die freie Zirkulation von
Grenzgängern aufrechterhalten werden
müsse. DanielKoch sagte am Montag,
es gebe ein Abkommen mitFrankreich.
«Der Bund ist daran, dass dieses Ab-
kommen eingehalten wird.»
So oder so: In den Spitälern drohen
Personalengpässe. In Spanien ist jeder


achte Infizierte Arzt, Pfleger oder Sani-
täter. In Italien ist es jeder zehnte. Auch
Schweizer Spitäler stellen sich auf mehr
Erkrankte in den eigenenReihen ein.
Das nationale Zentrum für Infektions-
prävention hat jüngst die Empfehlun-
gen angepasst: Ärzte oder Pflegefach-
personen mit milden Corona-Sympto-
men sollen mit Maske weiterarbeiten,
bis ein positivesTestergebnis vorliegt.
Bei einem positivenTest sollen sie nach
48 Stunden zurück an die Arbeit, wenn
sie nur leichteSymptome verspüren,
nicht fiebrig sind und eine Maske tragen.

«Akzeptable»Bedingungen


Für Yvonne Ribi vom Berufsverband
der Pflegefachfrauen und Pflegefach-
männer sind diese Empfehlungen
«akzeptabel». Viele Verläufe seien fast
ohneSymptome. Wenn die betroffene
Spitalangestellte vorherkerngesund ge-
wesen sei, arbeiten wolle und Schutz-

material in den Spitälern vorhandensei,
sei eine früheRückkehr zur Arbeit mög-
lich. Heikel ist dieLage laut Ribi bei frei-
beruflichen Pflegepersonen und Spitex-
Mitarbeitenden. «Sie arbeiten sehr nahe
an gefährdetenPersonen. Ihnen fehlt es
an Schutzmaterial.»
Ribi erzählt, auf lokaler Ebene wür-
den Zahnärzte, Nagelstudios oder
Restaurantküchen mit Masken aushel-
fen. Dennoch zeichne sich in der Alten-
pflege einePersonallücke ab. «Einfach
weil Leute krank werden oderin Qua-
rantäne müssen.»
Die Schweiz hätte eigentlich viel aus-
gebildetes Pflegepersonal. Doch viele
haben den Beruf wieder verlassen. Zür-
cher Spitäler und Gesundheitseinrich-
tungen schicken nun Studentinnen der
Pflege, Physio- oder Ergotherapie in
die Krankenhäuser. Und sie holen die
Aussteigerinnen zurück in den Dienst:
Zürich und Graubünden haben mög-
liche Zwangsrekrutierungen angekün-

digt. Andere Kantonerufen gelernte
Pflegefachleute dazu auf, sichfreiwil-
lig zu melden – mit Erfolg. In St. Gal-
len haben sich 500 Pflegefachkräfte
füreinen Dienstregistrieren lassen,
im NachbarkantonThurgau noch ein-
mal 500.Das Luzerner Kantonsspital
hat innertTagen über 1000 Anmeldun-
gen für Hilfseinsätze erhalten.Das sind
mehr, als das Spital laut Mitteilungge-
brauchen kann.
Und die Ärztinnen und Ärzte?Auch
bei ihnen gibt esAussteiger. Sie arbeiten
in Pharmafirmen oder in der Industrie
undkönnten notfalls aufgeboten wer-
den. Bevor es so weit ist, werden die Spi-
täler aber eine anderePersonalressource
anzapfen: die Spezialisten.

Spezialisten inWartestellung


VieleOrthopäden,Gynäkologinnenoder
Urologen sitzen zurzeit in leeren Praxen,
weil der BundeinVerbot erlassen hat für

nicht dringliche oder lebensbedrohliche
Therapien.Sie sind inWartestellung und
könnten in Spitälern einspringen, wenn
derAnstieg derFallzahlen nicht bald ab-
gebremst wird. Sollte die Schweiz aber
in italienischeVerhältnisse geraten,wird
das nichtreichen.
Die Spitäler sind deshalb daran, mit
pensionierten Ärzten und Medizin-
studentenKontakt aufzunehmen und
sie zurekrutieren.Ressourcen gäbe es
auch in Privatkliniken,die, so wie etwa
Gynäkologinnen, nur noch dringliche
Eingriffe durchführen dürfen. InFrei-
burg hat dieRegierung amFreitag be-
schlossen, dasPersonal und Material
von zwei Privatkliniken zu beschlagnah-
men. Die ZürcherRegierung zeigt sich
bis jetzt zurückhaltend mit derRekru-
tierung von privaten Ressourcen.
Gewisse Privatklinikenkönnte dies
in die absurde Situation bringen, dass sie
Pflegepersonal entlassen undKurzarbeit
beantragen müssen. Die Privatklinik
Pyramide, die zum Beispiel Kiefer-
chirurgie oder orthopädische Eingriffe
durchführt, hat dem Kanton angebo-
ten, das Pflege- und OP-Personal tem-
porär in Listenspitäler zu schicken. Der
Klinikgründer und Arzt Cédric George
sagt, bisher habe der Kanton wenig In-
teresse signalisiert. «Uns wurde lediglich
mitgeteilt, dass wir uns bei anderen Spi-
tälern erkundigen sollen, ob unserPer-
sonal gebraucht werde.»

Geheilte wärenideal


DerWille zu helfen, ist da.Von allen Sei-
ten. Die Direktorin des Schweizer Spi-
talverbands zeigt sich zuversichtlich,
dass die Spitäler um Zwangsrekrutie-
rungen von Ärzten herumkommen wer-
den.«Wir merken, dass sich viele Medi-
zinstudenten,Pensionierte und Spezia-
listen freiwillig zum Dienst melden. So-
gar bereits Genesene tun das.»
Die Genesenen wären ideale Einsatz-
kräfte an derFront.Soweit bekannt, sind
sie mindestens temporär immun gegen
das Virus. Im Spitalwesen gibt es Über-
legungen, wiePersonen, die die Krank-
heit überstanden haben, eingesetzt wer-
denkönnten.Vorstellbar wäre zum Bei-
spiel, dass sie nichtmedizinische Hilfs-
dienste in Spitälern leisten.
Das Problem an dieser Strategie ist,
dass das Bundesamt für Gesundheit nur
einen sehr kleinenTeil der Genesenen
überhauptkennt. Die meisten haben das
Virus ohneTest überstanden und sind
deshalb in der Statistik nirgends erfasst.

Ein Corona-Patient im Kantonsspital in Locarno erhältintensivePflege. ALESSANDRO CRINARI / KEYSTONE
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