Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

Mittwoch, 25. März 2020 SCHWEIZ 21


INTERNATIONALE AUSGABE


«Wir bitten alle Fahrgäste, auszusteigen»

In der Corona-Krise wi rd der öffentliche Verkehr stark reduziert – was heisst das für die Zug-Nation Schweiz?


SASCHA BRITSKO


Sie erwischt knapp dieS 33von Schaff-
hausen nachWinterthur. DieFrau,sie
muss knapp über 30 sein,setzt sich
schwer atmend in einen Zweiersitz, sie
fährt rückwärts.IhrTelefon klingelt.
«Ah, hoi.Ja, ich bi glii im Büro.Ja, du,
es isch gschpenschtisch. Ich han fascht
e schlechts Gwüsse, go schaffe z goo.»
Die Schweiz ist eineNation der Zug-
fahrerinnen und Zugfahrer. 20 18 nutz-
ten die Bewohner desLandes im Schnitt
71-mal dieBahn und legten dabei fast
2400 Kilometer zurück.Das ist ein euro-
päischer Höchstwert. Zu diesem Schluss
kam jedenfalls der hiesige Informations-
dienst für den öffentlichenVerkehr in
einer Auswertung desFahrverhaltens
sämtlicher europäischenLänder.
Doch das Coronavirus macht auch
vor denRobustesten von uns nicht
halt. Nicht vor Menschen und schon
gar nicht vor Zügen. Als Nebenwir-
kung wurde deswegen derFahrplan
am vergangenen Donnerstag «auf ein
Grundangebot»reduziert, wie es bei
den SBB heisst. Doch was bleibt von
der Zug-Nation Schweiz, wenn der ge-
samte öffentlicheVerkehr massiv zu-
rückgeschraubt wird?
Die Reise beginnt am Zürcher
Hauptbahnhof. Wie an jedem Morgen
drängen diePendler aus dem Zug. Nur
sind es heute nicht Hunderte wie sonst,
sondern vielleicht einDutzend.
DiePendler von heute sehen anders
aus. Sie sind bedeckter, tragen Schutz-
masken, manchmal richtige, manchmal
selbstgebastelte. Sie haben sie aus Stoff
ausgeschnitten, zusammengenäht und
an einen Gummi gespannt.Schwarz,
weiss, geblümt, gestreift. Angst macht
erfinderisch.
Im Coop Pronto verteilt eine Mit-
arbeiterin am Eingang Zettel. Nur 35
Personen dürften gleichzeitig imLaden
sein, «wegen der Quadratmeter», sagt
sie. DerLaden ist leer. Eine Angestellte
füllt achtlos Schokoladengipfel in den
Schaukasten. Sie würden viel weniger
davon backen als sonst.«Viel weniger»,
betont sie. «Die Leute haben Angst, an
denBahnhof zukommen.»Weltunter-
gangsstimmung. «Aber uns geht es gut.
Coop luegt uf üs.»


8 Uhr45, S 16 nach Herrliberg


AlsPendler ein ganzes Abteil für sich
zu haben, war stets ein Privileg, das man
mit jedemRucksack und jederTasche zu
verteidigen versuchte. An diesem Don-
nerstagmorgen erntet mankeine kriti-
schen Blicke, wenn man sein Gepäck
nicht auf den Boden stellt. Im ganzen
Waggonsitzen nur zwei weiterePerso-
nen. Einer davon ist ein Mann mittle-
ren Alters, er trägtKopfhörer.Inter-
nationalesPendler-Zeichen für «Bitte
nicht stören».
«Herrliberg-Feldmeilen ist Endstation
dieses Zuges. Wir bitten alleFahrgäste,
auszusteigen,und verabschieden uns von
Ihnen.»

Doch waskommt nach dem Ende?
Der Zug schleicht weiter, bleibt stehen
und fährt in der Gegenrichtung weg. In
Küsnachtrollt er auf das Abstellgleis, die
Lichter gehen aus. Einige Minuten spä-
terkommt ein junger Mann. Er sieht zu-


erst wie einVerirrter aus, dann zückt er
einen Schraubenschlüssel und sagt mit
einer Selbstverständlichkeit: «Ich bin
der Lokführer. Ich mache dir einfach
hi er auf, dann kannst duraus.» Neu-
anfang. «Einen schönenTag noch.»

9 Uhr31, S 16 nach Zch-Flughafen

Zwei Männer sitzen im gleichenWag-
gon. Niemandredet. Der Schweizer
spricht nicht im Zug. In Zürich Flug-
hafen steigen die Masken ein. Ein älte-
rer Mann mit dunkler Hautfarbe und
Hawaiihemd schiebt einenWagen mit
dreiKoffer vor sich her. SeineFrau hat
sich einenrosaRucksack wie einBaby

vorne umgeschnallt. Beide desinfizie-
ren sich hastig die Hände – und greifen
dann in den Kasten mit den «20 Minu-
ten»-Ausgaben.
Der Flughafen steht praktisch still.
Auf einer Anzeige werden die Geschäfte
eingeblendet, die noch geöffnetsind. Es
sind nichtmehr als sieben.
In einem Café langweilen sich die
Angestellten. Alle Sitzecken wurdenmit
rot-weissenBändern abgesperrt. Hin-
setzen verboten.«Vorallem alte Leute
kommen und wollen den Kaffee hier
trinken. Ich muss ihnen dann erklären,

dass nurTake-away möglich ist», sagt
eine Mitarbeiterin.
Normalerweise arbeiten sie morgens
zu dritt oder zu viert hinter demTr esen.
Seit dem14. März hätten sie aberKurz-
arbeit angemeldet und seien nur noch
zu zweit. «Das ist scheisse.Ich arbeite
gerne. So geht die Zeit kaum rum.» Ein
anderer Mitarbeiterkommt mit einem
Wagen voller Essen. «Noch mehr?Wer
soll das essen?», ruft seineKollegin.
Etwas abseits stehen zwei junge
Frauen. Sie haben sich soebeneinen
Kaffee geholt und lehnen nun an der
geschlossenen Nespresso-Bar. Eine der
Frauen heisst Zoe: blonde Haare,dun-
kelblaue Mütze, vielleicht 25Jahre alt.
Ihre Stimme klingt ein paar Zigaretten-
packungen älter.
Eigentlich, sagt sie, müsse sie in Qua-
rantäne sein,Verdacht auf Infektion.
Doch sie hält sich nicht daran. Stattdes-
sen bringt sie ihreFreundin an den Flug-
hafen. Sie hätten zusammen gearbeitet.
DieFreundinkehrt einen Monat früher
als ursprünglich geplant zurück in die
Niederlande, sofern das Flugzeug star-
tet. DerFlugnach Amsterdam wurde
zum zweiten Mal inFolge annulliert.
«Daumen drücken», sagt Zoe.

11 Uhr 04, S 24Richtung Zug


EineFrau über 50 sitzt auf den Einzel-
plätzen und telefoniert. Sie trägt hell-
blaue Gummihandschuhe und dunkel-
roten Lippenstift. «He died yesterday.
I’dont know.» Sie fängt an zu weinen
und schnäuzt in einTaschentuch.

11 Uhr 30, IC 5nach Lausanne


Der Geruch einerBahntoilette liegt in
der Luft. Der Dreiklang der SBB hallt
durch den Waggon: «Aufgrund des

Coronaviruswerden die Billettkontrol-
len reduziert.Bei Fragen melden Sie sich
bitte im mittlerenWagen,Nummer 3.Alle
Restaurants bleiben geschlossen.»
EinTelefon klingelt. «Hallo? Ah,
hoi!Ja, ja, ja. Ah, super. Ja, aber sorry.
De Alte chaschs nöd übel nee. Ich mein,
die hend ires Lebe glebt, und irgend-
wenn muesch halt sterbe. Davestaani
no, dass si e anderi Iistellig hend.– Ja,
wegem neueFaarplan hani etz mösse
über Olte gaa, voll schräg. Es lauft gar
nüt mee, du.Ja , hoffe mers mal! Hoffe
dörf me jo, gell.»
In Solothurn steigt ein älterer Mann
ein. Er schnauft so laut, als sei er gerade
einen Halbmarathon gerannt. Im Abteil
nebenan fängt er an, Selbstgespräche zu
führen. Er holtMarroni aus einem Sack,
verteilt die Schalen grossflächig im Ab-
teil und schiebt sich die Marroni in den
Mund.Dazwischen flucht er laut über
das «huere Corona»: «Tammi nomol.» In
Grenchen Süd steigt er aus.
AmLausannerBahnhof sitzt eine
Frau auf einerBank beim Gleis1.Sie
trägt Sonnenbrille und Atemmaske.
Von weitem ruft sie: «Stehen bleiben!
Es sind gefährliche Zeiten, wir müssen
alle aufpassen!» Sie zähle sich nicht zu
der Risikogruppe, sagt sie. «Aber die
Gesellschaft nimmt dasVirus zu we-
nig ernst!» Sie sei selbständig, habe im
Kulturbereich gearbeitet, sei seit einiger
Zeit aber pensioniert.Vor dem öffent-
lichenVerkehr fürchtet sie sich nicht,
eine Maske trägt sie trotzdem. «Ich will
niemandenanstecken.»
«Corona macht einsam», sagt sie und
zieht einePostkarte aus ihrerTasche.
EineFriedenstaube ist darauf zu se-
hen. «Darum verschicke ich jetztPost-
karten.» Sie steckt die Karte wieder in
ihre Einkaufstasche, zupft ihren Mund-
schutz zurecht: «Ich muss jetzt nach
Hause. Ich wünsche Ihnen einen schö-
nenTag. Wissen Sie, man sollte immer
allen einen schönenTag wünschen, das
gibt gutes Karma.» DieFrau eilt davon.

14 Uhr 20, IC1 nach St. Gallen


Die Mittagssonne streichelt die Sitze.
EineFrau und ihreTochtersitzen sich im
Abteilgegenüber. Beide tragen Schutz-
masken, die das Blau ihrerAugen be-
tonen. DieTochter liest einenFantasy-
Roman vonTolkien.
Es ist kurz vor 17 Uhr, als der Zug
in den Zürcher Hauptbahnhof einfährt.
Stosszeit. Doch auf vieleReisende stösst
man an diesem Nachmittag nicht. Einige
einsamePendler suchen ihrenWeg nach
Hause. Die riesigeBahnhofshalle wirkt
noch grösser als sonst.DieHektik des
Alltags ist weggeblasen. Selbst dieVelo-
kuriere machenPause.

Seit demAusbruch des Coronavirus ist der Zugverkehr eingebrochen. Nur nochwenige Pendler sind unterwegs. G. EHRENZELLER / KEYSTONE

Die Fahrpläne werden noch weiter ausgedünnt


(sda)· Am Montag ist das Angebot im
öffentlichenVerkehr erneutreduziert
worden. DieAusfälle undTeilausfälle
betreffen denFernverkehr sowie den
grenzüberschreitenden Regionalver-
kehr. Ausfallen oder teilweise entfallen
werden IC- und Interregio-Züge,wie
die SBB vergangeneWoche mitteilten.
Ganz gestrichen wird der IC 4 Zürich–
Schaffhausen.DieIC-2-Züge zwischen
Zürich und Lugano werden teilweise
ausfallen.
EinTeilausfall gilt auch für die Inter-
regio-StreckeBasel–Brugg (AG)–Zürich
HB und Zürich Flughafen (IR 36). Der
Interregio Basel–Aarau–Zürich und
nach St. Gallen (IR 37) fährt nicht zwi-


schen Zürich und St.Gallen.Ebenso
wird der Interregio Luzern–Zürich–
Konstanz (IR 75) zwischen Zürich HB
undKonstanz (D) nicht fahren.
In derWestschweiz fällt der Inter-
regio (IR90)von Genf Flughafen über
Lausanne nach Brig (VS) teilweise aus.
Änderungen gibt es auch im grenz-
überschreitendenRegionalverkehr im
Raum Genf. Die RE-Züge auf der Stre-
cke Annemasse (F)–Genf–Lausanne–
Vevey–St. Maurice fahren nur auf der
Schweizer Strecke wischen Genf und
St. Maurice.
Teilausfälle wird es beim Léman Ex-
press geben, der im vergangenen
Dezember den Betrieb offiziell aufge-

nommen hat. Der Léman Express be-
dient auf einer Strecke von 230 Kilo-
metern 45Bahnhöfe in den Kantonen
Waadt und Genf sowie in der französi-
schen Haute-Savoie.ImTessinkommt
esbei denTilo-Zügen zuTeilausfällen.
Bereits seit dem19. März verkeh-
ren Nachtzüge nicht mehr. DieBahn-
höfe werden auch amWochenende in
der Nacht geschlossen. Internationale
Züge innerhalb der Schweiz fahren
nur bis zur Grenze. Weitere Änderun-
gen imFernverkehr werden fürkom-
menden Donnerstag angekündigt. Eine
Woche später, am 2. April, sollen er-
neut weitere Zugverbindungen gestri-
chen werden.

Die Pendler von heute
sehen anders aus. Sie
tragen Schutzmasken,
manchmal richtige,
manchmal selbst-
gebastelte.

IN KÜRZE


Ärzte wollen Verbier
unter Quaran täne stellen
(sda)· Ärzte in Verbier im Kanton
Wallis wollen den Ort und das ganze
Val deBagnes wegen des Coronavirus
unter Quarantäne stellen. Sie halten die
Region für einen der grösseren Infek-
tionsherde in der Schweiz.«Wir müssen
dieRegion um jeden Preis vonderUm-
welt abkapseln, um dasWallis und die
Schweiz zu schützen», sagte die Ärztin
SabinePopescu der Zeitung «Le Nou-
velliste». Die für die Gesundheit zustän-
digeWalliser Staatsrätin EstherWaeber-
Kalbermatten liess die Ärzteschaft wis-
sen, dass der Kantonkeine Quarantäne
über einen Ort oder eineRegion verhän-
gen kann. Sie hat das Dossier deshalb
ans Bundesamt für Gesundheit (BAG)
weitergeleitet.DanielKoch vomBAG
sagte, der Bund sei mit dem KantonWal-
lis und den Gemeindebehörden daran,
eine Lösung zu finden. Am Schluss solle
der Kanton entscheiden. Es müsse über-
legt werden, ob eine Quarantäne über
dieRegion wirklich einen Beitrag zum
Gesundheitsschutz leistenkönne.

Zahl der Coronavirus-Fälle
steigt auf 8836
(sda)· Die Zahl der Coronavirus-Er-
krankungen in der Schweiz nimmt wei-
terrasch zu. Am Dienstagmittag gab es
bereits 88 36 bestätigteFälle. Das sind
776 mehr als noch vor 24 Stunden. Min-
destens 86Personen sind verstorben, wie
das Bundesamt für Gesundheit (BAG)
mitteilte. Weitere 4Todesfälle sind mög-
licherweise auf Covid-19 zurückzufüh-
ren – einLaborresultat liege jedoch
nicht vor. Betroffen seien nun alle Kan-
tone der Schweiz und dasFürstentum
Liechtenstein, schreibt dasBAG.Am
Montag war die Zahl derTodesfälle
im Zusammenhang mit dem Corona-
virus auf 70 gestiegen, wieDanielKoch
vom Bundesamt für Gesundheit vor
den Bundeshausmedien erklärt hatte.
Die aktuellenFallzahlen beziehen sich
auf Meldungen, die dasBAGbis Diens-
tag früh erhalten und erfasst hat.Daher
können dieDaten von denFallzahlen
abweichen, die in den Kantonenkom-
muniziert werden.

Grösste Rückholaktion in
der Geschichte der Schweiz
(sda)· Bis am Donnerstagmorgen holt
das Eidgenössische Departement für
auswärtige Angelegenheiten (EDA) in
zunächst drei Flügen rund 750 in der
Schweiz wohnhaftePersonen nach Hause
zurück. Sie hatten wegen der Corona-
Krise in Südamerika festgesessen. Der
ersteRückholflug wurde am Dienstag-
nachmittag am Flughafen Zürich erwar-
tet.Das Flugzeug startete in SanJosé
in Costa Rica. Zur Mission abgeflogen
war es von Zürich aus am Sonntag. Die
Rückholaktion ist die grösste in der Ge-
schichte der Schweiz.WeitereLandungen
vonRückholflügen erwartet das EDA am
Mittwoch- und am Donnerstagmorgen.
Ein Flugzeug aus Bogotà inKolumbien
soll am Mittwoch um 7 Uhr 45 in Zürich
eintreffen.Rückkehrerinnen undRück-
kehrer aus Lima inPeru sollen am Don-
nerstag um 9 Uhr 20 landen. Die Heim-
gekehrten müssen zehnTage in Quaran-
täne.In denkommendenWochen plant
das EDADutzende zusätzliche Flüge
nachLateinamerika, Asien und Afrika.

Hotelplan verlängert
Reisestopp und Annullation
(awp)· DerReiseveranstalter Hotel-
plan Suisse setzt seinReiseprogramm
neu bis 30. April aus. Zuvor galt der
Stopp bis19. April. Grund sind die Ent-
wicklungen in der Coronavirus-Krise.
Damit würden alle bis zum genannten
Datum gebuchtenPauschalreisen sowie
Reservationen vonFerienwohnungen
undFerienhäusernkostenlos annulliert,
teilte die Migros-Reisetochter am Diens-
tag mit. Einzelleistungen, die bei Hotel-
plan Suisse gebucht wordenseien, wür-
denebenfalls annulliert. Neubuchungen
nimmt Hotelplan erst wieder fürFerien
ab dem1. Mai entgegen.
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