Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

INTERNATIONALE AUSGABE


22 ZÜRICH UND REGION Mittwoch, 25. März 2020


Sans-Papiers, Obdachlose und Asylbewerber


leidenstark unter dem Coronavirus SEITE 23


Mehrhäusliche Gewalt erwartet – der Sicherheitsdirektor


deklariert Nulltoleranzbei Angriffen auf Frauen SEITE 23


Die scheinbar stillgelegte Stadt


Aktuelle Daten z eigen, dass viele Zürcher tatsächlich zu Hause bleiben; der Rückzug aus dem öffentlichen Leben ist aber eherspät erfolgt


ANDRÉ MÜLLER (TEXT),BALZ RITTMEYER
(GRAFIKEN), ANNICK RAMP (BILDER)


Bleibt alle zu Hause! Man kann der Bot-
schaft seit vergangenerWoche fast nicht
ausweichen; Medien, Freunde undPoli-
tikerinnen verbreiten sie im Minuten-
takt auf allen Kanälen. Zeit also für eine
erste datenbasierte Erfolgskontrolle:
Wie gut haben sich die Zürcher bisher
an dieVorgabe gehalten?Viele Daten
sind leider erst mit etwasVerzögerung
verfügbar oder lassen sich nur schwer
interpretieren. Doch die Statistiker von
Stadt und Kanton haben zusammen mit
der Zürcher Open-Data-Bewegung, die
auch sonst offizielle Zahlenmustergültig
aufarbeitet,einige interessanteDaten-
sätze zusammengetragen, die eine erste
Einschätzung erlauben.
Die Leute sind tatsächlich weniger
unterwegs. Der stärksteRückgang er-
folgte aber erst, nachdem der Bundesrat
am Montag vor einerWoche das öffent-
liche Leben weitgehend eingefroren hatte.
Und selbst jetzt sind immer noch zahlrei-
che Personen auf den Zürcher Strassen
und Trottoirs unterwegs.
Katharina Kälin verglich die von Goo-
gle erhobenenFrequenzdaten zahlreicher
Bahnhöfe, Läden und weiterer öffent-
licher Orte von letztemFreitag und Sams-
tag mit denDurchschnittswerten.An den
Bahnhöfen Stadelhofen und Oerlikon hal-
ten sich erwartungsgemäss viel weniger
Personen auf als üblich;auch derTouris-
ten-Hotspot Lindenhof war offenbar nur
schwach besucht.In manchen Coop- oder
Aldi-Filialen ist dagegen vor allem eine
zeitlicheVerschiebung festzustellen: Es
wird mehr am späteren Morgen einge-
kauft und weniger zurFeierabendzeit.


Weniger Stau und Stickoxide


Der Strassenverkehr in der Stadt Zürich
hat wegen der Corona-Krise abgenom-
men. Bereits ein Blick auf sonst stark
befahrene Hauptachsen bestätigt die
Vermutung. Selbst wenn einigePendler
wegendes Virus vom Zug auf dasAuto
umgestiegen sind, wiegt stärker, dass die
Leute insgesamt mehr zu Hause bleiben.
Die Stadt Zürich unterhält eine gut
positionierte Zählstelle auf der Höhe
von Bürkliplatz und Stadthausanlage.
Die Quaibrücke ist eine der wichtigsten
Autoverbindungen zwischen den beiden
Seeufern und innerhalb des Stadtgebiets.
Noch in der vorletztenWoche fuhren hier
stündlich rund1500 Fahrzeuge vorbei. In
der vergangenen Arbeitswoche wurden
dann noch 1200 bzw. 1300Fahrzeuge ge-


zählt, am Samstag in der Spitze nicht ein-
mal mehr 1000 Fahrten pro Stunde.
Auch die Staudaten des Navigations-
geräteherstellersTomtom zeigen ein ähn-
liches, noch deutlicheres Bild: Es hatte
letzteWoche wenigerFahrzeuge auf den
Zürcher Strassen als sonst, so dass der
Verkehr besser fliessenkonnte. An den
Arbeitstagen bildeten sich noch immer
Spitzen zu den klassischen Stosszeiten am
Morgen und am Abend, aber sie waren
weniger ausgeprägt als sonst.Das ist ein
gutes Zeichen: Die Arbeit bleibt ja auch
in Corona-Zeiten einvalabler Grund,das
Haus zu verlassen, jedenfalls für alle, die
nichtim Home-Office arbeitenkönnen.
WenigerAutos bedeuten auch weni-
ger Schadstoffe. Und tatsächlich ist an
diesemWochenende an der vielbefahre-
nen Rosengartenstrasse die Luftqualität
merklich besser geworden. Die Belas-
tung mit Stickstoffdioxid liegt tiefer als
üblich. Allerdings taugen dieseDaten
kaum für einerasche Erfolgskontrolle.
DerFachmannJörg Sintermann vom
Amt für Abfall,Wasser, Ene rgie und
Luft (Awel) erklärt das in einemKom-
mentar auf der Projektseite der Open-
Data-Community so:«Der Grund ist,
dass dieAusbreitungs- undVerdün-
nungsbedingungen sowie der Einfluss
anderer Quellen mit derWitterung sehr
stark schwanken undso selbst bei gleich-

bleibender Emission deutliche Schwan-
kungen in der lokalen Luftqualität ent-
stehen.»Temperatur, Wind undRegen
verändern die Messwertealso derar t
stark, dass sinnvolleVergleiche auf die
Schnelle nicht möglich sind.
Noch deutlicher als derAutoverkehr
hat wohl die Nachfrage nach Zug- und
Busfahrten abgenommen. Genaue Zah-
len zur vergangenenWochekönnen
aber weder die SBB noch der ZVV aus-
weisen. Die Bundesbahnenrechnen laut
einem Sprecher schweizweit derzeit mit
einem Nachfragerückgang um bis zu 80
Prozent, wobei dieFahrgastzahlen noch
weiter abnehmenkönnten.

Spaziergänger gehen hinaus


Der Bundesraträt zwar schon seit ei-
niger Zeit dazu, Züge und Busse mög-
lichst nur dann zu nutzen, wenn man un-
bedingt darauf angewiesenist. Dennoch
wird der Effekt der Beschränkungen im
öV erst dieseWoche voll durchschlagen,
da bis am Donnerstag auch das Angebot
spürbar heruntergefahren wird.
Die VBZ werten ihreFahrgastzahlen
stichprobenartig aus, daherkönnen auch
sie denRückgang über das ganze Stadt-
gebiet hinweg noch nicht sicher beziffern.
Allerdings haben die VBZ laut ihrem
SprecherTobias Wälti an der Haltestelle

Hardbrücke testweise ein neues Zähl-
system in Betrieb genommen. Hier hal-
ten dieTramlinie 8 sowie die meist gut be-
legten Buslinien 33,72 und 83.In der letz-
ten Woche seien dieWerte jeweils 30 bis
50 Prozent tiefer ausgefallen als vor der
Corona-Krise, sagt Wälti.
Die Schweizer und Zürcher Behör-
denvertreter haben stets betont:Für
Spaziergänge undJoggingtouren darf
man dieWohnung weiterhin verlassen,
aber bitte nicht in der Gruppe. Von die-
ser Möglichkeit machen viele Gebrauch,
wie dieDaten mehrerer Zählstationen
in der Stadt zeigen.
Auch hier spieltdas Wetter eine wich-
tige Rolle. Viele nutzten letzteWoche
die schönen, warmenTage noch ein-
mal für ausgedehnte Spaziergänge. Das
zeigt neben den Zählstellen auch die
oben erwähnteAuswertung der Goo-
gle-Frequenzdaten: DieJosefswiese war
am Freitag (20. 3.)sehrgut besucht, am
regnerischen Samstag nicht mehr.
Beim Arboretum hat dieFussgänger-
zahl erst an diesemWochenende markant
abgenommen – nachdem die Stadtpoli-
zei das Areal absperrte. Das regnerische
Wetter amWochenende half derPolizei
sicherlich auch dabei,dasVerbot durchzu-
setzen.Auch anderswo brauchte es seine
Zeit, bis diePassantenströme versiegten.
Die Fussgängerbrücke über die Sihl, die

sich auf der Höhe derReithalle befindet,
war in der Arbeitswoche vom 9. bis zum
13.Märznochimmerrechtgutausgelas-
tet;in den letztenTagen erfasste die Zähl-
stelle dann immer wenigerPassanten.

Zahl der Flüge geht massiv zurück


Der Flughafen liegtbekanntlich nicht
auf Zürcher Stadtgebiet. Doch die Be-
wohner von Schwamendingen und See-
bach wissen nur zu gut, dass es ihn gibt,
liegensie doch je nachWindverhältnis-
sen in den An- oder Abflugschneisen.
Sie können ihre Schallschutzfenster in
nächster Zeit aber wohl getrost offen
lassen, denn auch der Flugverkehr ab
Zürich ist in den letztenTagen richtig-
gehend zusammengebrochen: Hat der
Flughafen bis vor kurzem 600 bis 700
Flugbewegungen am Tag vermeldet,
sind es derzeit rund einViertel.Da die
Swiss seit diesem Montag nur noch mit
sechs Flugzeugen ab Zürich operiert,
dürfte die Zahl weiter zurückgehen.
Dass am Flughafen immer weniger Be-
trieb herrscht, hilft bei der Eindämmung
des Coronavirus. An Orten wie der An-
kunftshalle 2 den nötigen Abstand einzu-
halten,war noch letzteWoche nicht immer
möglich.An diesem Montag hat der Flug-
hafen nun bekanntgegeben, weitere Soci-
al-Distancing-Massnahmen umzusetzen.

Wer mit demVelo in der Stadt unterwegs ist, h at derzeit keine Probleme mit demAutoverkehr. Die 2er-Linie gehört normalerweisezu den meistgenutztenTramlinien, jetzt sind einige Sitzreihenleer.

Free download pdf