Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

Mittwoch, 25. März 2020 ZÜRICH UNDREGION 23


INTERNATIONALE AUSGABE


Schwache trifft die Corona-Krise besonders hart

Sans-Papiers, Asylsuchende und Obdachlose leiden mehr als andere – die Zahl jener, die umSozialhilf e ersuchen, steigt sprunghaft an


LINDAKOPONEN, MICHAELVON LEDEBUR


LucíaPerez* fürchtet um ihre Existenz.
Durch die Corona-Krise hat die 39-Jährige
ihrenJob alsReinigungskraft verloren.
Erspartes besitzt sie, die bisher im Stun-
denlohn gearbeitet hat, nicht. Und seit
das Bundesamt für Gesundheit (BAG)
dieVorschriften verschärft hat, traut sie
sich kaum mehr aus derWohnung. Nicht
wegen desVirus, sondern wegen derPoli-
zei. Die Südamerikanerin lebt seit 13Jah-
ren illegal in der Schweiz.
Die Sans-Papiers sind ein Beispiel da-
für, dass die Corona-Krise die ohnehin
Schwachen hart trifft. Schätzungsweise
19000 Menschen leben ohneAufent-
haltsbewilligung im Kanton Zürich. Hinzu
kommen rund 1800 Asylsuchende und in
der Stadt Zürich geschätzt dreiDutzend
Obdachlose. Perez sagt in gebrochenem
Deutsch: «Ich weiss nicht, wie lange das
Essenreicht, was ich tun soll, wenn ich
krank werde, oder wie lange wir in unse-
rer Wohnung bleibenkönnen.»
Sans-Papierskönnen weder Arbeits-
losengeld noch Sozialhilfe beziehen. Die
meisten arbeiten wiePerez im Stunden-
lohn und wohnen in prekärenVerhältnis-
sen.Viele teilen dieWohnung mit mehre-
ren Personen. LetzteWoche hat derVer-
ein Zürich City Card deshalb gemeinsam
mit der Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich
(Spaz) eine Spendensammlung gestartet.
Rund 60 000 Franken sind dabei bisher
zusammengekommen.Das Geld wird für
Lebensmittelgutscheine und Kranken-
kassenprämien zurVerfügung gestellt.


Notschlafstelle dauernd geöffnet


Das Bundesamt für Gesundheit fordert
die Bevölkerung auf, zu Hause zu blei-
ben. Doch was ist mit jenen, diekein Zu-
hause haben? Und lässt sich Social Dis-
tancing inKollektivunterkünften über-
haupt umsetzen?
Aus den Bundesasylzentren wurden
bereits erste Corona-Fälle bekannt.Auf
Anfrage heisst es beim Staatssekretariat
für Migration (SEM), dass die Zentren in
Zürich und Embrach derzeit zu 58bezie-
hungsweise 45 Prozent ausgelastet seien.
Man habe die Kapazitäten erhöht, um die
Asylsuchenden auf mehrRäume zu ver-
teilen und krankheitsbedingteAusfälle
beim Betreuungs- und Sicherheitsperso-
nal aufzufangen. Die Isolation lässt sich
in derKollektivunterkunft jedoch nur be-
dingt umsetzen: Zum Essen etwa treffen
sich die Bewohner in Schichten von bis zu
maximal 50Personen im Speisesaal.
Das SEM hat wegen derPandemie die
Tr ansfers beschränkt und die Anhörun-


gen vorerst für eineWoche sistiert, um
die dafürvorgesehenenRäume mit Plexi-
glasscheiben auszustatten.Für die Be-
troffenen heisst es nun warten– länger,
als es normalerweise erforderlich wäre.
Reto Kormann, Mediensprecher des
SEM, sagt: «Der Betrieb läuft normal,
auch wenn Corona natürlich – zumindest
subjektiv – auf die Stimmung in den Bun-
desasylzentren Einfluss hat.»Wichtig sei
der permanente Dialog mit den Bewoh-
nern – sowohl für die Sensibilisierung als
auch, umdieNöte und Ängste der Asyl-
suchenden aufzunehmen.
Entsprechend gefordert sind die Mit-
arbeiter in denKollektivunterkünften.
Bei der kantonalen Sicherheitsdirektion
heisst es auf Anfrage, der Kanton Zürich
habe für die gesamteAsylinfrastruktur
rechtzeitigVorsorgemassnahmen getrof-
fen. Die mit dem Betrieb der kantona-
len Zentren betrauten Organisationen
verfügten über Gesundheits- undPan-
demiekonzepte. Das Fachpersonal vor
Ort sorge für deren Umsetzung. Zudem
würden die Pflegefachpersonen von er-
fahrenen Ärztinnen und Ärzten unter-
stützt.Für besonders vulnerablePerso-

nen sei eine separate Unterkunft einge-
richtet worden. Seit einigenTagen gilt ein
Besuchsverbot.
Auch die Unterkünfte für Ob-
dachlose haben ihren Betrieb ange-
passt. Sowohl die Notschlafstelle als
auch die Nachtpension in der Stadt
Zürich haben ihre Türen seit die-
serWoche rund um die Uhr geöff-
net. Bisher mussten die Bewohner die
Unterkünfte tagsüber verlassen. Ob-
dachlosen, die es vorzögen, weiterhin
draussen zu übernachten, stehe der
Tr effpunkt City im Seefeld alsTages-
aufenthaltsort mitDusch- und Klei-
derwaschmöglichkeiten zurVerfügung,
schreibt die Stadt Zürich am Montag
in einem Communiqué. Zudem sei der
Strichplatz in Zürich Altstetten in eine
temporäreKontakt- und Anlaufstelle
für Suchtkranke umfunktioniert wor-
den. Der Platz biete ausreichendRaum
fürAufenthalt und «überwachtenKon-
sum mit dem nötigen Abstand gemäss
denVorgaben desBAG».
Viele Bewohnerinnen und Bewoh-
ner der städtischenWohneinrichtungen
kämpfen mit psychischen Problemen

und Suchterkrankungen. Nadeen Schus-
ter, Kommunikationsverantwortliche der
sozialen Einrichtungen und Betriebe der
Stadt Zürich, sagt:«Wir merken, dass die
Klientinnen und Klienten sensibel auf
dieVeränderungenreagieren.» Kleinere
Veränderungen in den Abläufen wie bei-
spielsweise das vonBAGund Kanton
angeordnete Besuchsverbot in den sta-
tionären Angeboten und die gestaffelten
Mahlzeiteneinnahmen bedeuteten für sie
massive Einschnitte. Die Mitarbeitenden
seien daher stark gefordert, um die Klien-
tinnen und Klienten bestmöglich durch
di eseschwierige Zeit zu begleiten und
allfällige psychische Krisen und Gewalt-
ausbrüche zu verhindern.

Sozialhilfe für Selbständige


Geöffnet sind in der Stadt Zürich auch die
Sozialzentren. An den Schaltern herrscht
deutlich mehr Betrieb als gewöhnlich. Die
Zahl jener, die Sozialhilfe beantragen, hat
sich in den vergangenenTagen verdrei-
facht. Normalerweise zählt das Zürcher
Sozialamt täglich rund 20Fälle – seit An-
fang letzterWoche liegt die Zahl zwischen

60 und 70Personen. Bei gut 80 Prozent
der zusätzlichenPersonen handle es sich
um selbständig Erwerbende, sagt Mir-
jam Schlup, Direktorin Soziale Dienste
der Stadt Zürich. Betroffen seien vor
allem Leute aus demTieflohnbereich mit
knappenReserven, sagt Schlup: Coiffeu-
sen, Taxifahrer, Nagelstudiobesitzerinnen.
Auch Prostituierte sind vermehrt vorstel-
lig geworden.
Schlup führt aus, es handle sich fast aus-
schliesslich um Leute, die bisher noch nie
mit dem Sozialamt zu tun gehabt hätten.
Viele seienkonsterniert, in dieseLage ge-
raten zu sein. An den Schaltern flössen
immer wiederTr änen.
EineVerdreifachung stellt auch das
Winterthurer Sozialamt fest, wenn auf-
grund der Grösse auch auf tieferem
Niveau. Die Zahl der Selbständigen und
der Angestellten halte sich ungefähr
dieWaage, sagt DieterP. Wirth, Leiter
Soziale Dienste. Bei den Angestellten
handle es sich umPersonen aus prekä-
ren Arbeitsverhältnissen, die beispiels-
weise im Stundenlohn angestellt seien.
Selbständige sind auch in normalen Zei-
ten der Gefahr ausgesetzt,relativrasch in
der Sozialhilfe zu landen, wenn das Ge-
schäft nicht läuft. Anders als Angestellte
haben siekeinen Anspruch auf Geld aus
der Arbeitslosenversicherungskasse.
Längst nicht jeder, der in den vergan-
genenTagen einen Antrag auf Sozialhilfe
gestellt hat, wird in der Sozialhilfe landen.
Wirth betont, wie hilfreich die Ankündi-
gung des Bundes vomFreitag gewesen
sei,Taggelder an Selbständige auszurich-
ten. In vielenFällen zahle das Sozialamt
deshalb lediglich eine Bevorschussung
aus, bis das Geld aus derAusgleichskasse
fliesse. In Zürich frage man die Antrag-
steller, «wie lange sie noch durchhalten
können», sagt Schlup. Notfalls zahle man
zur Überbrückung einenVorschuss aus.
«UnserZielsind möglichst wenig neue
Sozialhilfefälle.»
Bemerkenswert ist, dass die Stadt
Zürich trotz Corona-Krise an geöffne-
ten Sozialzentren festhält, währendWin-
terthur am letztenFreitagkomplett auf
telefonische Beratung umgestellt hat. Sie
lege grossenWert darauf, dass die Zentren
offen blieben, sagt Mirjam Schlup. Nicht
jeder sei in derLage, einen Online-An-
trag auszufüllen. Die Sozialzentren seien
nicht nur für Sozialhilfebeziehende da,
sondern auch fürPersonen mit Beistän-
den und Kinderschutzfälle. «Eskommen
sehr verzweifelte und auch psychisch an-
geschlagenePersonen zu uns», sagt Schlup.
Diese seien angewiesen auf persönliche
Kontakte. Das gelte auch in gewöhnlichen
Zeiten – aber gegenwärtig besonders.

Zu Hause bleiben: Für einen Obdachlosen ist dieseForderung kaum zu erfüllen. SALVATORE DI NOLFI / KEYSTONE

Opferhilfe erwartet mehr häusliche Gewalt


Die Situation in der Corona-Krise sei vergleichbarmit Feiertagen – 2019 blieb die Kriminalität im Kanton stabil


ALOIS FEUSI


Nach der erstenWoche mit Einschränkun-
gen der individuellen Bewegungsfreiheit
zur Eindämmung des Coronavirus haben
die ZürcherPolizeien nochkeinen An-
stieg von häuslicher Gewalt festgestellt.
Aber sowohl der kantonale Sicherheits-
direktor MarioFehr als auch Christiane
Lentjes Meili, Chefin derKriminalpoli-
zei der Kantonspolizei Zürich, sowieFelix
Lengweiler, Chef der Kriminalabteilung
der Zürcher Stadtpolizei, sind sich sicher,
dass innerfamiliäre Spannungen zuneh-
men werden.
Die Situation werde sich ähnlich ent-
wickeln wie in denWeihnachts- und Neu-
jahrstagen, mutmassteFehr am Montag-
vormittag in der perVideo übertragenen
Präsentation der Kriminalstatistik 2019.
DieFälle von häuslicher Gewalt häuften
sich jeweils während der zweiten Hälfte
derFesttage. Die Opferhilfeorganisatio-
nen arbeiten normal. Allerdings finden die
Beratungen inzwischen nicht mehr im per-
sönlichen Gespräch statt, sondern sie wer-
den telefonisch und online durchgeführt.
Die Opferhilfestellen und Frauen-
häuser sollen nun dringend zusätzliches


Personal einstellen, zum Beispiel Studie-
rende in den Bereichen Sozialarbeit, Psy-
chologie und Sozialpädagogik, wie die
Sicherheitsdirektion sowie die Direktion
derJustiz und des Innern in einer gleich-
fallsam Montagvormittag veröffentlich-
ten Medienmitteilung fordern.Ausser-
dem sollenweitere Räumlichkeiten für
die Unterbringung von Opfern angemie-
tet werden.Das kantonale Sozialamt und
dieFachstelle Opferhilfe garantieren laut
derregierungsrätlichen Medienmitteilung
die Übernahme derKosten dieser Mass-
nahmen.Auch für den zusätzlichenAuf-
wand in denFrauenhäusern und den Be-
ratungsstellen stellt dieRegierung Sofort-
hilfe inAussicht.

MehrTötungsdelikte


Die Sicherheitsdirektion sowie die
Direktion derJustiz und des Innern be-
tonen, dass die Hilfe für Opfer häuslicher
Gewalt zu den Grundaufgaben des Staa-
tes zähle.Der Dienst Gewaltschutz so-
wie die Interventionsstelle gegen häus-
liche Gewalt innerhalb der Präventions-
abteilung der Kantonspolizei seienper-
sonell verstärkt worden und der Schutz

vonStalking-Opfernwerde erweitert,
betonte der Sicherheitsdirektor an der
Medienkonferenz zur Kriminalstatistik.
Der Kampf gegen dieseForm derGe-
walt sei ein Schwerpunkt derRegierungs-
arbeit, hieltFehr fest. Und weitere Schritte
würden folgen. «Denn bei Gewalt gegen
Frauen kann es nur Nulltoleranz geben.»
2019 registrierte diePolizei im Kanton
3391 Straftaten, die unter die Kategorie
häusliche Gewalt fielen; 2018 waren es
noch 3227Fälle gewesen. Besonders mar-
kant war dieVerdoppelung derTötungen
im häuslichenRahmen von 5 auf 10.Dabei
waren 2 der Opfer kleine Kinder.
Insgesamt stieg die Zahl der vollende-
tenTötungen von 7 imJahr 20 18 auf 16 im
vergangenenJahr; in 4Fällen brachte sich
der Täter nach derTötung selber um.Ve r-
suchteTötungen gab es im letztenJahr 36,
davon 8 im häuslichen Bereich. ImVorjahr
waren es 32 versuchteTötungsdelikte ge-
wesen, davon 13 im familiären Umfeld.
Insgesamt erfassten die ZürcherPoli-
zeien 20 19 mit 111 578 rund 1,8 Prozent
weniger Straftaten gemäss Strafgesetz-
buch (StGB), Betäubungsmittelgesetz
undAusländer- und Integrationsgesetz als
imVorjahr (113 602). In der Stadt Zürich

nahm die Gesamtzahl der Delikte von
53 904 um 4Prozent auf 51 736 ab.

Zunehmende Jugendgewalt


Die Zahl derVerstösse alleine gegen
das Strafgesetz stieg bei den erwachse-
nen Tätern kantonsweit um 0,4 Prozent
von 90 772 auf 91174. In der Stadt Zürich
ging sie von 43 917 um 1,3Prozent zu-
rück auf 43 333.Bei den Jugendlichen
unter 18 Jahrenregistrierten die Behör-
den 2293 StGB-Verstösse. Das sind 434
oder23,3 Prozent mehr als 2018, als 1859
derartige Straftatenregistriert wurden.
LentjesMeili verweist auf einen Zufalls-
fund im Bereich der illegalenPornogra-
fie. Hier stieg der Anteil jugendlicher
Straftäter an, von 25,5 Prozent 20 18 auf
43,6 Prozent 2019.
Markant ist die von der Kantonspolizei
verzeichnete Zunahme derJugendgewalt
um 58,7 Prozent. Diese hat laut Lentjes
Meili mit dem ruppigeren Umgang im
Ausgang sowie mit Alkohol und Dro-
gen zu tun. Zudem trügen immer mehr
Jugendliche Messer auf sich. Zum ande-
ren sei aber auch eine grössereAnzeige-
Bereitschaft festzustellen.

Bundverbietet


Ratssitzung


STEFANHOTZ

Am15. März hatte die Gesundheitsdirek-
tion ihre zweiTage zuvor erteilte Bewil-
ligung für die am16. März vorgesehene
Kantonsratssitzung widerrufen. Die Ge-
schäftsleitung desRatsbeauftragte den
StaatsrechtlerFelix Uhlmann von der
Universität Zürich darauf mit einemKurz-
gutachten.Gemäss dem am19. März ab-
gegebenenPapier liegt die Zuständigkeit
für dieDurchführung der Sitzungen beim
Kantonsrat. Der Bundesratkönnte wei-
tergehende Einschränkungen vorsehen.
Für möglich hält Uhlmann eine elektro-
nische Abstimmung, was der Kantonsrat
bis anhin ausgeschlossen hatte.
Auf Anfrage hält das Bundesamt für
Justiz am Montagabend fest, die Sitzung
sei aufgrund der Covid-19-Verordnung 2
des Bundesrats als Menschenansammlung
von über fünfPersonenverboten. Rats-
präsident Dieter Kläy widerspricht jedoch
laut dem «Landboten»: Der Kantonsrat
sei nicht einfach eineVeranstaltung.
Der Gutachter Uhlmann sieht jedoch
in jedemFall eine kantonaleKompetenz,
Ausnahmebewilligungen zu erteilen. Es
bestehe «an der demokratischen Abstüt-
zung der kantonalen Notmassnahmen ein
eminentes öffentliches Interesse».
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