Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

Mittwoch, 25. März 2020 SPORT 25


INTERNATIONALE AUSGABE


Home-Office ist Fussball light


Wie die meisten im Land arbeiten auch Exponenten der Super-League-Klubs derzeit von zu Hause aus – Einblicke bei fünf Personen


Das Stadion, im Bild jenes in St. Gallen, fällt alsTreffpunktweg, die Arbeit geht versprengtweiter. GIAN EHRENZELLER / KEYSTONE

MICHELE COVIELLO, BENJAMINSTEFFEN


Die Schweiz sitzt seitTagen amKüchen-
tisch, auf dem Sofa, im Gästezimmer
und versucht, das Bruttoinlandprodukt
zuretten.Wowir uns eigentlich aus-
ru henund entspannen,herrscht nun
wegen des Coronavirus ernster Betrieb.
Das Rauschen desDampfabzugs aus der
Küche und der Schlussspurt derWasch-
maschine schwingen in der Skype-Kon-
ferenz mit, Arbeit undFamilienleben
vermischen sich.
Viele lernen erstjetzt, was Home-
Office bedeutet – ganz besonders eine
Branche,die vom engenKörperkon-
takt und vom bedingungslosenTeam-
geist lebt: der Sport, derFussball. Seit
dem 22.Februar stehen alleWettbe-
werbe in der Schweiz still. Und vor rund
einerWoche haben die Profiteams auch
ihrTr aining einstellen müssen.Vor dem



  1. April wird es wohlkeine Spiele geben,
    vielleicht auch länger nicht.
    Doch was bewirkt ein derart langer
    Einschnitt in ein hochkomplexes Gefüge
    wie eine Gemeinschaft von über zwan-
    zigFussballern?Wie sehr wird die fra-
    gileBalance vonTaktik,Technik und
    Physis gestört, wie sehr leidenAutoma-
    tismen undTeamgeist?Wie können all
    dieseKomponenten über einen länge-


ren Zeitraum ohne denregelmässigen
Kontakt aller Beteiligten erhalten blei-
ben?Wir haben bei fünfPersonen in fünf
Klubs nachgefragt.
Eines ist klar:Für dieFussballer ist
Home-Office nur eine Lightversion ihrer
Arbeit. Mit Kraftübungen undWald-
läufen überbrücken sie die Zeit ohne
Teamtraining und ohneWettkampf, sie
erhalten so die Grundvoraussetzungen
für ihreSportart. DerThunerTr ainer
Marc Schneider willTaktisches erst wie-
der ansprechen, wenn dasTeam beisam-
men ist, der YB-Konditionstrainer Mar-
tinFryandstellt konkretereAufgaben
erst, wenn derTermin des Neustarts fest-
steht; aber vielleicht führe derTeam-Chat
des FCBasel dazu, dass die Lust am Spiel
und der Zusammenhalt beim nächsten
Zusammenzug nur noch grösser seien,
meint der Spieler SilvanWidmer.
DiePause stellt auchFührungskräfte
wie den FCZ-SportchefThomas Bickel
vor Situationen, die ein neues Mindset
verlangen. Zudem müsste er aus den
eigenen vierWänden heraus das Kader
für die nächste Saison skizzieren: schwie-
rig. Genausokompliziert, wie die Bin-
dung zuFans und Sponsoren aufrecht-
zuerhalten – einThema, das den St. Gal-
ler Präsidenten Matthias Hüppi beson-
ders beschäftigt.

DER KONDITIONSTRAINER
Als MartinFryandam
vorletzten Montag nach
Hause marschierte,
merkte er, wie gemäch-
lich er ging,und fragte
sich:«Was ist jetzt los?»
Eine Entschleunigung
hatte ihn bereits erfasst.
Erst Stunden zuvor hatte der YB-Kon-
ditionstrainer dasTeam ein letztes Mal
getroffen, alle gingen davon aus, dass sie
sich bis zum 31. März nicht sehen wür-
den – inzwischen ahnen etliche, dass es
länger dauern wird.
Fryand gab den Spielern Pulsuhren
undTherabänder mit nach Hause, ei-
nige nahmen eineKurzhantel mit. Zu-
dem erhielt jeder einLaufprogramm
und einen Plan mit Kräftigungsübun-
gen; einige sollten sofort starten, «wer
zuletzt viel spielte, darf es etwas ruhiger
angehen lassen». Fryand verlangt nichts
Aussergewöhnliches, derTr ainerstaff hat
den Spielern empfohlen, zu einer alltäg-
lichen Zeit aufzustehen, zu frühstücken
und danach «für kurze Zeit Gas zu ge-
ben». Die Spieler sollten sich eine Ecke
suchen, in der sich seriös arbeiten lasse,
«mit der richtigen Musik für die richtige
Stimmung und die richtige Motivation».
Es kursieren Instagram-Filmchen,
in denen Stars zelebrieren, wie sie ihre
Form erhalten, von SergioRamos etwa,
wie er sich von Gerät zu Gerät treibt.
Fryand findet, gerade jungeFussballer
müssten sich nicht dazu verleiten las-
sen, Ähnliches abzuspulen, «es ist wich-
tig, dass sie das Richtige tun statt irgend-
etwas». Die Situation sei anspruchsvoll
genug, wenn unerfahrene Spieler, viel-
leicht auch aus demAusland,einfach da-
heim sitzen müssten.Wenn dieWieder-
aufnahme desTeamtrainings absehbar
ist, wirdFryandkonkretereAnforderun-
gen stellen.Das eine oder andereTelefo-
nat hat er gleichwohl geführt, die sport-
liche Leitung pflege möglichst inten-
sivenKontakt mit demTeam, gewisse
Spieler dürfe man «nicht einfach allein
lassen,Verbundenheit ist wichtig».
Der Oberwalliser betreut die erste
YB-Mannschaft seit 2009 , für ihn ist
klar, dass dieTeams zwischen drei und
fünfWochen für denFormaufbau brau-
chen werden. Nach einer kurzenVor-
bereitung sogleich loszulegen, mit zwei
oder drei Spielen proWoche, «tack, tack,
tack, das wäre nahezu fahrlässig und
könnte zuVerletzungen führen».
Immer wieder schiessen ihm Ideen
für Übungen durch denKopf, er schreibt
sie auf, anwenden darf er vorerst nichts.
Und so zimmerteFryand letzthin ein
kleines Netz zusammen, amAbend
spannte er es über den Esstisch, und die
FamilieFryand spielte Pingpong. bsn.

DER CHEFCOACH


Am Morgen ist Marc
Schneiderjetzt manch-
mal Lehrer für techni-
sches Zeichnen,Rechnen,
Deutsch. Home-Schoo-
ling mit derTochter.
Schneider ist derTr ai-
ner des FCThun, am vor-
letztenFreitag hat erseinTeam zum
letzten Mal gesehen.Damals erliess der
Bundesrat dasVerbot fürVeranstaltun-
gen mit mehr als 100Personen, darauf
bekam die Mannschaft frei, am Diens-
tag, 17. März, hätten sich Spieler und
Tr ainer ein letztes Mal treffen wollen.
«Es blieb beimWollen», sagt Schnei-
der, weil der Bundesrat das öffentliche
Leben am16. März weiter einschränkte
undThun den Betrieb einstellte.
Was jetzt ist, sehnten Spieler oft her-
bei, sagt Schneider, einen langen Unter-
bruch, nicht bloss wenigeWochen Som-
mer- undWinterpause, sondern andert-
halb Monate, runterfahren, durchlüften.
Und jetzt sind’s anderthalb Monate,
aber es ist eineAuszeit, die sich nicht
geniessen lässt. DieThuner liegen im
letztenRang, eine gewisse Anspannung
bleibt, «deshalb wären wir froh, zu wis-
sen, wie es weitergeht». Vorerst mit tech-
nischem Zeichnen,Rechnen, Deutsch.
Die Spieler haben Hausaufgaben
bekommen für Kraft undKondition,
und Schneider hofft, dass sie ab und zu
auf einenFussballplatz im Dorf gehen,
«allein oder zu zweit», etwas Arbeit am
Ball, immerhin.Sobald wiederTr ainings
erlaubt seien, dauere es «mindestens
dreiWochen», bis dasTeamwieder so
etwas wieWettkampffähigkeit erlange,
«alles darunter wäre Harakiri». Schnei-
der erinnert sich an seine Spielerkar-
riere,wie er im FC Zürich einst lange
verletzt war und am Ende derRekonva-
leszenz nur noch mit dem Physiothera-
peuten trainierte, «ich fühlte mich so be-
reit wie nie zuvor – aber sobald ich auf
dem Platz mit demTeam trainierte, war
ich sofort ausser Atem. Zwischen Indivi-
dual- undTeamtraining liegenWelten.»
Sonst lebt Schneider von Spiel zu
Spiel, aber nun gibt es nichts zu analy-
sieren, nicht einmal die Kaderplanung
lässt sich vorantreiben, weil dieThuner
nicht wissen, in welcher Liga sie spielen
werden, sobald irgendwanneine neue
Saison beginnt.Wenn sie schon die Zeit
dazu haben, machen sie sich jetzt eher
Gedanken über die Art, «wie du spie-
len willst», über ihre DNA. Und Schnei-
der wird mit den Spielern telefonieren,
es sollen lockereGespräche sein,keine
Taktikbesprechungen,«mich interessiert
mehr, ob sie mit der Situation zurecht-
kommen. An allem anderen arbeiten wir
wieder, wenn wir uns treffen.» bsn.


DERSPORTCHEF
Jetzt ist es ganz ruhig um
Thomas Bickel herum.
Der Sportchef des FC
Zürich telefoniert mut-
terseelenallein aus der
Geschäftsstelle, obwohl
es mitten in derWoche
ist,mitten amTag, 14Uhr.
«DieStimmung ist speziell», sagt er,
«auch auf den Strassen.» Alle Mitarbei-
tenden sind zu Hause, Bickel musste
noch wichtige Unterlagen holen. «Ab
jetzt werde ich auch möglichst alles da-
heim erledigen.»
AmTag davor – am Mittwoch war
es – hatte der FCZ seineFussballer ein
letztes Mal zusammengezogen, «aufge-
teilt, in kleinen Gruppen». DieVereins-
führung legte grossenWert auf einen
le tzten persönlichenKontakt, auf ein
Verabschieden von Angesicht zu An-
gesicht. DennFührung bedeutet auch,
eine Grundhaltung zu vermitteln. Bickel
musste «konzentriert überlegen, wie mit
derLage umgehen». Der Klub brachte
einen Krisenstab auf denWeg. Und vor
diesem erzwungenen Urlaub sollten die
Spieler eine einheitliche Botschaft mit
auf denWeg bekommen. «Uns war es
wichtig, dass allen bewusst ist, was wir
als Klub wollen», sagt Bickel.
DieWeisungen seien klar gewesen.
Es ging um Selbstdisziplin: zu Hause
bleiben, nicht zu denVerwandten in die
Heimatreisen, das mitgegebeneFitness-
programm einhalten und die Präsenzauf
Social Media minimieren. «DieWelle
wird noch heftiger», sagt Bickel, «und
die Konsequenzen können schlimm
sein.» Mankönne nicht genug betonen,
wie ernst dieLage sei. Die grosse Mehr-
heit der Bevölkerung sei betroffen, die
Swiss lasse die Flugzeuge am Boden.
«Das Problem ist ganzheitlich», sagt er.
Und einschneidend für den FCZ. Lohn-
kürzungen sind angekündigt. «Es ist
klar, dass wir alle Einbussen haben wer-
den», sagt Bickel. Und werde die Meis-
terschaft nicht zu Ende gespielt, dann
drohe demFussball wirklich derKollaps.
So weit denkt Bickel aber nicht.«Wir
werden das überstehen», davon ist er
überzeugt. Die Krise sieht er als Chance.
Wie der FCZ diese erste Phase bewäl-
tigt habe, gebe ihm Energie. Nun muss
er eine neueVorgehensweise in seiner
täglichenArbeitals Sportchef finden–
in einerJahreszeit, die normalerweise
wegweisend für die nächste Saison ist.
Verträge laufen aus, anderemüssten ver-
längert werden,Tr ansfers sind zu prüfen
und anzugehen. «Das ist alles schwierig,
weil der Zeithorizont nicht fassbar ist.»
Einige Entscheide hat der FCZ schon
gefällt. Aber wiekommuniziert man sie
mitten in diesem Stillstand? cov.

DER PRÄSIDENT
Matthias Hüppi sieht sich
in dieser Zeit alsKom-
pass, auch wenn er selber
nicht wisse, wie es wei-
te rgehe. «Ich muss alles
tun, um die Hoffnung
aufrechtzuerhalten, um
zu helfen», sagt der Prä-
sident des FC St. Gallen. Gerade sein
letztesTr effen mit demTeam hat ihm ge-
zeigt, wofür er vor allem gebraucht wird:
umRuhe zu vermitteln, um Zweifel zu
beseitigen.
Am vorletzten Montag trenntensich
dieWege der St. Galler in Richtung Iso-
lation.Davor versammelte sich der Lea-
der der Super League ein letztes Mal im
Mittelkreis. DerTr ainerPeter Zeidler
hielt eine Ansprache, auch Hüppi und
der Sportchef Alain Sutterredeten.Vor
allem aberstellten dieFussballerFragen


  • und äusserten Ängste. Dieeinen woll-
    ten wissen, wie sie ihrenFormstand über-
    prüfenkönnten. Andere sorgten sich
    um die Zukunft des Klubs. «Ich musste
    Sicherheit geben und sie mit einem guten
    Gefühl gehen lassen», sagt Hüppi, «letzt-
    lich geht es um Unterstützung.»
    Bei ihm stehe die Bürotüre ohnehin
    immer offen, «das ist auch jetzt so, ein-
    fach virtuell». Der ehemaligeTV-Mann
    hat ein gutes Gespür fürKommunika-
    tion. Deshalb erstaunt es nicht, dass er
    gerade in dieser Situation klardefiniert,
    wer wann mit wem spricht. Die Spieler
    stehen mit demTr ainer und dem Sport-
    chef inKontakt und Letztgenannte mit
    dem Präsidenten.
    Zudem fragt sich Hüppi, wie und wie
    oft er sich bei Sponsoren oderFans mel-
    den soll. «Wer kann schon die Flut an
    Informationen zum Coronavirus verar-
    beiten?», fragt Hüppi. Erkönne es nicht.
    Deshalb sei ihm wichtig, die richtige
    Dosierung zu finden – «so, dass man die
    Leute erreicht, ohne dasFuder zu über-
    laden». Er habe Ideen, wieeretwa mit
    Geldgebern inKontakt bleibenkönne,
    nun müsse er einenFahrplan für diese
    Aktionen erstellen.
    Hüppi ist als Präsident angetreten
    mit dem Ziel, der Ostschweiz etwas zu
    bieten. DieseVerantwortung spürt man
    auch jetzt bei ihm. Es bestehe die Ge-
    fahr, dieLage nur subjektiv zu beurtei-
    len, man dürfe aber nie vergessen, dass
    die Situation alle betreffe. «Solidarität
    ist nicht eine Einbahn, sondern Gegen-
    verkehr», sagt Hüppi. Er denkt an die
    Gönner, an die über 80 00 Saisonkarten-
    Inhaberinnen und -Inhaber. «Mir ist es
    nicht egal, was mit ihnen momentan
    passiert.» Es gebe Möglichkeiten, sich
    gegenseitig zu unterstützen. «Aber die
    sind privat, die behalte ich lieber für
    mich.» cov.


DER SPIELER
Gezwitscher dringt durch
den Telefonhörer. Sil-
vanWidmer ist gerade
draussen in der Natur,
Gassi mit dem Fami-
lienhund, einem Mittel-
spitz. Es sind die weni-
gen Momente, in denen
sich derAussenverteidiger des FCBasel
vor dieWohnungstür begibt. InWidmers
Stimme liegt etwas Nachdenkliches und
Ehrfurchtsvolles angesichts der ausser-
ordentlichen Situation. «Es ist wichtig,
dass wir niemanden in Gefahr bringen
und möglichst zu Hause bleiben», sagt
der 27-Jährige.
Doch ein wenigAuslauf muss sein,
nicht nurdesHundes wegen. Das Home-
Office desFussballprofis bringt zwin-
gend Bewegung mit sich,regelmässig,
ausdauernd.Widmer arbeitet täglich in
den eigenen vierWänden, kräftigt seine
Muskeln mit Eigengewicht, führt einige
Einheiten manchmal in der Garage
durch. Aber für dieKondition braucht
es dennoch dieWeite. Fünf- bis sechsmal
dieWoche stehtJoggen auf dem Plan
der FCB-Spieler, jeweils zwischen einer
halben Stunde und fünfzig Minuten –
«allein, imWald», betontWidmer. Man
merkt, wie ernst es ihm ist, das Social
Distancing einzuhalten. «Je besser wir
aufeinander schauen und je mehrRe-
geln wir befolgen, desto schneller wird
sich die Situation verbessern», sagt er.
Und gleichzeitig kann erFrau undToch-
tergeniessen.
Irgendwie istes fürWidmer ähn-
lich wie imTr ainingslager, einfach um-
gekehrt.Wenn er zweiWochen mit der
Mannschaft weg sei, dann vermisse er
seine Liebsten. «Nun fehlt mir dieFuss-
ballfamilie», sagt er. Und offenbar geht
es seinenKollegenähnlich.Aus dem
Team-Chat spürtWidmer, dass alle posi-
tivgestimmt seien, auch wenn ein wich-
tigerTeil ihres Berufes momentan weg-
falle. «Alle wollen zurück insTr aining,
das ist ein gutes Zeichen.» Er ist über-
zeugtdavon, dass die langePause seiner
Mannschaft nicht schaden werde.
Tr otzdem macht sichWidmer Ge-
danken darüber, wie es nun weitergehe.
«Und das nicht nur für uns Sportler, son-
dern für die ganzeWelt.» Der Unter-
bruch erinnert ihn auch ein wenig an den
Sommer in der Serie A, wo er fünfJahre
lang nur kurzeWinter-Breaks, dafür län-
gerePausen in den warmen Monaten er-
lebte. Mit seinenFreunden im Belpaese
steht er inKontakt, und obwohl dieLage
dort «noch eine Stufe schlimmer» sei,
hätten sie ihre Zuversicht nicht verloren.
«Auch ich bleibe positiv», sagtWidmer.
«Ich glaube an die Menschen und freue
mich auf die Normalität.» cov.
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