Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

26 FORSCHUNG UND TECHNIK Mittwoch, 25. März 2020


INTERNATIONALE AUSGABE


Virtuelle Konferenzen

anstelle von physischen Tagungen

Das Coronavirus hemmt den wissenschaftlichen Austausch. VON HELGA RIETZ


Am Dienstagmorgen dieserWoche be-
gann in derWelt der Physik ein gros-
ses Experiment: Zum ersten Mal in der
175-jährigen Geschichte der Deutschen
PhysikalischenGesellschaft (DPG)fin-
den dieFrühjahrstagungen nur noch vir-
tuell statt. Denn die Massnahmen zur Ein-
dämmung des Coronavirus legen auch auf
den wissenschaftlichenAustausch lahm:
Konferenzenund Workshops, unter nor-
malen Bedingungen die Schlagader des
wissenschaftlichen Betriebs, sind bis auf
weiteres undenkbar geworden.
Als eine der erstenreagierte die Ameri-
can Physical Society (APS), die am1. März
ihr «Spring Meeting» absagte. Diese
grösste Zusammenkunft von Physikern,
die jährlich rund 10 000 Forscher aus aller
Welt anzieht, hätte vom 2. bis zum 6. März
in Denver stattfinden sollen.Am 10. März
folgte die DPG, die mit den «Frühjahrs-
tagungen» das deutschsprachigePendant
zum «Spring Meeting» der APS organi-
siert. DieTagungen, die diese und in den
kommenden zweiWochen in Dresden,
Bonn und Hannover hätten stattfinden
sollen undzu denen jeweils mehrere tau-
sendForscher erwartet wurden, sind ab-
geblasen – jedenfalls dieVeranstaltungen
vor Ort. APS und DPG entschieden, die
Konferenzen so weit wie möglich online
stattfinden zu lassen.
Bei der virtuellenFrühjahrstagung
stellen sich alsbald die erwartbaren
Schwierigkeiten ein. Rund 200 Teil-
nehmer haben sich zugeschaltet –
wesentlich weniger, als bei derTagung
vor Ort dabei gewesen wären.Dafür
scheitert der laut Plan vorgeseheneVor-
tragende an derTechnik, die Organisa-
toren diskutieren darüber, was jetzt zu
tun sei. Umdisponieren?Warten?


Ausbrücheauf Konferenzen


Es bestehtkein Zweifel: Kongresse und
Konferenzen abzusagen, ist das Gebot
der Stunde – zumal derartigeVeran-
staltungen bereits als Epizentren neuer
Ausbrüche des Coronavirus identifiziert
wurden. Im kanadischen British Colum-
bia sind derzeit fast 15000 Teilnehmer
einerKonferenz für Zahnmedizin in


Quarantäne, nachdem dort Infektionen
mit dem neuen Coronavirus auftraten.
In Boston liess sich ein lokalerAusbruch
auf dasTr effen derFührungskräfte eines
international tätigen Biotech-Unterneh-
mens zurückverfolgen. Und die Uni-
versität Zürich schloss am 6. März ihre
Zahnklinik, weil eingrosserTeil der Mit-
arbeiter an einemKongress mit Infizier-
ten inKontakt gekommen war. Mit den
wenigen, die sich nicht in häusliche Qua-
rantäne begeben mussten, liess sich der
Betrieb nicht mehr aufrechterhalten.
Für APS und DPG bedeutete das,
innerhalb von wenigenTagenTausende
Teilnehmer und HunderteVorträge zu
reorganisieren.Das Wichtigste sei, die
Forscher und die Anwohner in denKon-
ferenzstädten vor einer möglichen An-
steckung zu schützen, betont Gerhard
Samulat, der Pressesprecher der DPG.
Mit dem Streaming vonVorträgen habe
man bei kleinen Meetings schon viele
sehr gute Erfahrungen gesammelt;nun
müsse sich zeigen, ob dieTechnologie
auch in einem so grossen Setting wie der
Frühjahrstagung funktioniere.
Allerdings wird nur ein kleinerTeil
derTagungen online abrufbar sein; eine
ArtRumpfprogramm, das vorderhand
dieVorträge etablierter und weitherum
bekannter Professoren enthält. Die sehr
viel zahlreicheren Kurzvorträge von
Masterstudenten und Doktoranden fal-
len dem Coronavirus zum Opfer.
Für Absolventen und jungeWissen-
schafter ist das eine bittere Pille, denn für
sie sind dieFrühjahrstagungen der DPG
ein besonders wichtiges Ereignis: Dort
üben sie, die eigenen Ideen undResul-
tate vor grossem Publikum vorzutragen.
Ausserdem dienen dieKonferenzen als
Stellenbörse, vonder gerade jungeWis-
senschafter am meisten profitieren.Das
Networking findet aber nun einmal
nicht imVortragssaal statt, sondern in
der Kaffeepause und beim gemeinsa-
men Essen.«Wirmüssen schauen, wie
viel von der physischenTagung imVir-
tuellen noch übrig bleibt», sagt Philipp
Jaeger, der zurzeit an der University of
Manitoba in Kanada promoviert und für
dieTagung in DresdenVorträge speziell

für Master- und Promotionsstudenten
mitorganisiert hat: «So eineTagung ist
ein vielschichtiger Event, von dem sich
nur einige wenige Aspekte insVirtuelle
übertragen lassen.»
Das sieht auch Gerhard Samulat so.
In derKürze der Zeit sei es aber nicht
möglich gewesen, online ein noch um-
fangreicheres Programm anzubieten.
Die APS entschied sich deshalb für ein
hybridesSystem aus Live-Vorträgen on-
line und aufgezeichneten Beiträgen. Sie
bietet auf Virtualmarchmeeting.com
allenregistriertenRednern eine Online-
Plattform an, auf der sie ihreVorträge
deponierenkönnen – etwa als Slide-
show mitAudiospur oder inForm eines
Videos. Über die Plattform sind die ein-
zelnen Beiträge mit demKonferenzpro-
gramm verknüpft undkönnen systema-
tisch durchsucht werden.Auf Twitter äus-
serten sich vieleWissenschafter enthu-
siastisch überdiesesFormat – etwa, weil
sie aufgrund vonTerminkollisionen die
Konferenz vor Ort gar nicht hätten be-
suchenkönnen. Noch immer werden täg-
lich neue Beiträge hochgeladen.Auch
deshalb dominiert in der deutschspra-
chigen Physik-Community die gespannte

Erwartungauf das, was die ersten virtuel-
lenFrühjahrstagungen bringen werden.
Man habe das Gefühl, an einem gros-
sen Experiment teilzunehmen, soJaeger.
Ohnehin werden in derWissenschaft
seit geraumer Zeit Stimmen lauter, die
die ausschweifendeReisetätigkeit der
Forscher kritisieren und die Entwicklung
geeigneter Plattformen für virtuelleKon-
ferenzen einfordern.Dass geradeWis-
senschafter exzessivreisen, passt eben
schlecht in eine Zeit, in derebenjeneFor-
scher auf dieReduktion des CO 2 -Ausstos-
ses pochen, um absehbare Schäden durch
die Klimaerwärmung zu verringern.

Wirtschaftlicher Schaden


Tr otzdem ist für Samulat klar: Dass die
Frühjahrstagungen kurzfristig abgesagt
werden müssen,darfkein zweites Mal
passieren. Denn für die DPG bleibt ein
enormer wirtschaftlicher Schaden. Die
Konferenzbeiträge werden grösstenteils
zurückgezahlt, bereitsgeleistete Zahlun-
gen,etwa die Miete derRäume für öffent-
licheVorträge, könnenaber nur inAus-
nahmefällen zurückgefordert werden.
Die Online-Vorträge diesesJahres kann
mitverfolgen, wer will und eine stabile
Internetverbindung hat. EinRegistrie-
rungssystem einzubauen, über das allen-
falls auch eineTeilnahmegebühr einge-
fordert werdenkönnte, sei in derKürze
der Zeit undenkbar gewesen, so Samulat.
Abgesehen von den technischen Start-
schwierigkeiten gab es am Dienstag auf
den Kanälen der DPG-Frühjahrstagung
vielPositives. Zwar ist die Übertragung
nicht immerreibungslos, dafür fallen so
manche Ärgernisse weg: Niemand stört
mitTastaturgeklapper oder Gesprächen
mit dem Sitznachbarn.Wer während des
Vortragskommt oder geht, bleibt unbe-
merkt. Es ist erstaunlichruhig undkon-
zentriert. Sogar die anschliessende Dis-
kussion funktioniert dank geduldiger
Anleitung durch die Moderatoren gut.
Am Dienstagnachmittag verabschieden
sich dieTeilnehmer in den Abend, mit
der Erkenntnis, dass online vieles doch
besser funktioniert als gedacht. Oder zu-
mindest weniger schlecht als befürchtet.

HAUPTSACHE, GESUND


Gesund,


aber gefährlich


Ronald D. Gerste


Zugegeben: Meine ersten Erinnerun-
gen an dasVelo sind negativ. Ich war
vielleicht zehn oder elfJahre alt, hatte
dasVelofahren eher spät erlernt und
befand mich auf der ersten grösseren
Exkursion mit meinem Cousin. In einer
Kurve bremste er unerwartet, meinVor-
derreifen prallte auf seinen Hinterreifen,
und meine Schneidezähne prallten auf
die Lenkstange. Ein Zahn musste vom
Zahnarzt abgeschliffen werden; die ver-
gleichsweise stumpfe Beissflächebe-
merke ich noch heute, wenn ich mit der
Zunge darüberfahre.
Auch später blieb meinVerhältnis
zu demFortbewegungsmittel getrübt,
was vielleicht am öffentlichenAuftre-
ten mancherVelofahrer liegt, denen
rote Ampeln undVortrittsregeln offen-
sichtlich egal sind.Kein Zweifel indes
besteht daran, dass es eine gesunde und
praktische Methode ist, zur Schule oder
zur Arbeit zu gelangen oder sich in der
Freizeit fit zu halten. Es geht weniger
auf dieGelenke alsdasLaufen, und man
kommt schneller voran.
Kürzlich erzählte mir ein alter Stu-
dienfreund, der es zum Professor an
einer süddeutschen Universität ge-
bracht hat, dass er von seinem rund
zwanzig Kilometer entferntenWohn-
ort jedenTag mit demVelo zur Kli-
nik fahre – und das bei Schneesturm
ebenso unerschütterlich wie bei Som-
merhitze. Bei aller Erkenntnis um die
gesundheitlichen und ökologischenVor-
züge dieser Art desPendlertums: Nicht
jedem sind dieseAusdauer und diese
Entschlossenheit gegeben. Mancherorts
erschweren dies auch die geografischen
Strukturen, zum Beispiel in der Schweiz
mit ihren vielen geografisch bedingten
Steigungen.
Tagein, tagaus perPedal und eigener
Muskelkraft zur Arbeit zu fahren, hat
auch gesundheitlich gesehen Licht- und
Schattenseiten.Das hat eine grosse Stu-
die aus demVereinigtenKönigreich be-
legt. DieForscher prüften, welchen Ein-
flussdas für den Arbeitsweg verwendete
Verkehrsmittel auf die Gesundheit hat.
Die untersuchteKohorte bestand aus
mehr als 230 00 0 Pendlern.
DieForscher fokussierten auf die-
jenigen, die überwiegend mit demVelo
fuhren. Mit rund 5700Teilnehmern war
dies eine Minderheit von 2,5 Prozent der
Studienpopulation, was vielleicht jeder
verstehen kann, der denRushhour-Ver-
kehr zumindest in Londonkennt.
DieVelofahrer hatten – erwartungs-
gemäss – eine um 45 Prozent höhere
Unfallwahrscheinlichkeit alsAutofahrer
oder Nutzer der öffentlichenVerkehrs-
mittel.Würden Letztere für zehnJahre
auf dasVelofahren umsteigen, müsste
man laut denForschern mit 26 zusätz-
lichen unfallbedingten Spitalaufenthal-
ten pro 10 00 Umsteigernrechnen. Aller-
dings hätte die aktiveForm der Dienst-
fahrt auch einige gesundheitlicheVor-
züge:Sogäbe es pro 10 00 Umsteiger in
zehnJahren 15 Krebsdiagnosen, 4 Herz-
infarkte und 3Todesfälle weniger.
DieAutoren fordern daher, dieInfra-
struktur dort velofreundlich zu gestal-
ten, wo das noch nicht geschehen ist.
Dies, um das Risikovon Unfällen zu
senken und dieWahrscheinlichkeit zu
erhöhen, dass die bis anhin inaktiv pen-
delnden Berufstätigen aufsVelo umstei-
gen.Damitkönnte, auf die gesamte Be-
völkerung gesehen, vielen Menschen
eine Krebserkrankung erspart werden,
und auch einige Menschenlebenkönn-
ten gerettet werden – sofern die bau-
lichen Massnahmen erfolgreich wären.

Statt vor Ortzu diskutieren, können auf Online-PlattformenVorträge deponiertwerden – etwaals SlideshowmitAudiospur oder inForm einesVideos. ADRIEN PERRITAZ / KEYSTONE


Die Übertragun g ist


nicht immer reibungslos,


dafür fallen so manche


Ärgernisse weg:


Niemand stört


mit Geklapper


oder Gesprächen


mit dem Sit znachbarn.

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