Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

Mittwoch, 25. März 2020 FORSCHUNG UND TECHNIK 27


INTERNATIONALE AUSGABE


Kampf gegen das Lungenversagen


Ältere und geschwächte Personen müssen nacheiner Infektion mit Sars-CoV-2 oft auf der Intensivstation behandelt


werden. Dort dreht sichalles umden eingeschränkten Gasaustauschin der Lunge. VON ALANNIEDERER


Die meistenPersonen habenkeinen
Grund, sich vor dem neuenVirus aus
China zu fürchten. Denn sie werden
nach einer Infektion mit Sars-CoV-2
höchstens mild erkranken: mit Fie-
ber und Husten. Möglicherweisekom-
men Muskel-,Kopf- und Halsschmer-
zen dazu, seltener auchDurchfall und
Übelkeit. Nach ein paarTagen ist der
Spuk meist wieder vorbei – auch ohne
Arztbesuch.
Bei diesenPersonen – es sind rund
80 Prozentder Infizierten –kommt
das Immunsystem gut mit dem neuen
Krankheitserreger zurecht. Ihret-
wegen hätte nicht der Notstand aus-
gerufen werden müssen. Diese Mass-
nahme wurde nötig, weil 15 bis 20 Pro-
zent der Infizierten schwer erkranken.
Dabei handelt es sich meist um ältere
Personen und solche mitVorerkrankun-
gen wie Diabetes, Herz-Kreislauf- oder
Lungenkrankheiten.


Risikogruppensind gefährdet


Weil viele dieserPatienten im Spital be-
handelt werden müssen,kommen die
Gesundheitssysteme bei einem mas-
senhaften Anstieg der Infektionszahlen
rasch an ihre Grenzen. In der Corona-
Krise gilt es daher, die Übertragung
des Virus auf die besonders gefährde-
ten Senioren und Chronischkranken zu
verhindern.
Was aber passiert bei einemPatien-
ten mitschwerem Covid-19-Verlauf?
Auch in diesemFall beginnt die Krank-
heit meist mitgrippeähnlichenSym-
ptomen. Nach ein paar Tagen ent-
wickelt der Patient aber zusätzlich
Atemnot. DiesesSymptom unterschei-
det sich fundamental voneinem mil-
den Krankheitsverlauf. Der Arzt stellt
beimPatienten möglicherweise einebe-
sc hleunigte und teilweise oberflächliche
Atmungfest. Zudem ist sein Allgemein-
zustandreduziert.
Das alles weist aufeine Lungenent-
zündung hin. DerVerdacht wird mit
einem bildgebendenVerfahren wie der
Computertomographie bewiesen.Auf
den CT-Bildern lassen sich meist auf


beiden Seiten der Lunge mehr oder
weniger ausgeprägte Infiltrate nach-
weisen. Sie sind Zeichen einer durch
das Coronavirus ausgelösten Entzün-
dung im Lungengewebe. Damit ver-
sucht das Immunsystem desPatienten,
den Krankheitserreger zu bekämpfen
und zu eliminieren.
Laut Hans Pargger, Chefarzt der
Intensivstation am Universitätsspital
Basel,sind die nachgewiesenen Lungen-
veränderungen nicht spezifisch für das
neue Coronavirus. Sie kommen auch
bei anderen viralen Pneumonien vor,
zum Beispiel imRahmen der saisona-
len Grippe.
Eine Lungenentzündung ist eine
ernsthafte Erkrankung, die medizini-
sche Beurteilung und Behandlung er-
fordert. Sie ist aber nicht per se etwas
Dramatisches. Bei vielenPatienten heilt
die Entzündung folgenlos ab. Bei einem
Teil der Betroffenen – oft sind das äl-
tere Patienten und solche mit gesund-
heitlichen «Hypotheken» – kann die Si-
tuation aber ausserKontrolle geraten.
Ohne Gegenmassnahmen nimmt ihre
Atemnot zu, und sie geraten in einen
kritischen Zustand.

Zu tiefer Sauerstoffwert im Blut


Laut der Schweizerischen Gesell-
schaft fürIntensivmedizin dürfte dieses
Schicksal7, 5 bis 10 Prozent der mit Sars-
CoV-2 Infizierten ereilen. Bei ihnen ist
die Entzündung so schwer, dass sich das
Lungengewebe mit sehr viel Flüssig-
keit, Eiweissstoffen und Immunzellen
füllt.Durch dieVerdickung der nor-
mal erweise hauchdünnenTrennwand
zwischen Lungenbläschenund feinsten
Blutgefässen wird der lebenswichtige
Gasaustausch in der Lunge erschwert.
Das betrifft in erster Linie den Sauer-
stoff (O 2 ), der jetzt nicht mehr so ein-
fach von der Lunge in die Blutgefässe
übertreten kann.Aber auch dasKohlen-
dioxid (CO 2 ) im Blut kann nicht mehr so
einfach ausgeatmet werden.
In dieser Situation droht das Lungen-
versagen,auch akutesAtemnotsyndrom
oderARDS genannt (AcuteRespiratory

DistressSyndrome).Dass diesesSyn-
drom nichts Exklusives von Covid-19 ist,
zeigt sich daran,dass die Diagnose welt-
weit jedesJahr bei über drei Millionen
Patienten gestellt wird. Die häufigsten
Ursachen sind schwere Lungenentzün-
dungen und die sogenannte Sepsis, die
imVolksmund auch schwere Blutvergif-
tung genannt wird und die auch durch
Viren verursacht sein kann.
«Ein beginnendes Lungenversagen
wird anhand einer zu tiefen Sauerstoff-
sättigung im arteriellen Blut diagnos-
tizi ert» , erklärt der Intensivmediziner
Pargger. Dieser Test sei wichtigerals
der Befund im CT. «Denn die Sauer-
stoffsättigung gibtAuskunft über die
Funktionder Lunge, die Bildgebung
nur über dasAussehen und die Be-
schaffenheit des Organs.» Sinkt der
Blutsauerstoffgehaltauch unter Sauer-
stoffzufuhr unter einen bestimmten

Grenzwert, muss derPatient lautParg-
ger auf die Intensivstation verlegt wer-
den. Denn nur hier kann er rund um
die Uhr mit Hightech-Medizin behan-
delt werden.

AntiviraleTestsubstanzen


Dazu gehört auch die künstliche Be-
atmung, die beim schweren Covid-19-
Verlauf zentral ist, wiePargger betont.
Damit soll der Lunge die nötige Zeit
gegeben werden, um sich von der Ent-
zündung zu erholen. Dabei können
möglicherweise auch antiviraleTest-
substanzen wieRemdesivir und Kale-
tra, aber auch das Immunsystem modu-
lierende Arzneimittel helfen. Diese für
Covid-19 noch nicht offiziell zugelasse-
nen Medikamente werden inBasel bei
allenPatienten auf der Intensivstation
eingesetzt.
Der Nutzen dieser Substanzen sei
zwar noch nicht mit Studien bewiesen,
betont der Intensivmediziner.Aus China
und Italien gebe es aber Hinweise, dass
die Medikamente eineWirkung hätten,
insbesondere wenn sie früh im Krank-
heitsverlauf gegeben würden.So h ätten
damitbehandeltePatientendie Inten-
sivstation teilweise nach wenigenTagen
verlassenkönnen.
In einigenFällen reicht allerdings
selbst die künstliche Beatmung nicht
aus, um denPatienten zurett en. Die
Entzündung im Lungengewebe ist so
ausgeprägt, dass der Gasaustausch trotz
erhöhtem Beatmungsdruck nicht mehr
richtig möglich ist. In einem solchen
Fall kann die Lungenfunktion durch
ein Verfahren namens extrakorporale
Membranoxygenierung (ECMO) er-
setzt werden.Dabei wird das Blut des
Patienten durch eine Maschine geführt,
in deres mit Sauerstoff angereichert und
von Kohlendioxid befreit wird.
«Damit kann man die Lunge noch
besser und länger ersetzen als mit der
künstlichen Beatmung», sagt Pargger.
Man wisse aber auch, dass nur ein
kleinerTeil derPatienten davon pro-
fitiere. Denn bei einer schweren Lun-
genentzündung kann es nach zwei bis

drei Wochen zu einem bindegewe-
bigen Umbau des Organs kommen.
«Eine solche Fibros ierung geht mit
einer dauerhaftenFunktionseinbusse
einher», so der Experte. AndereThe-
rapien seien deshalb viel wichtiger als
ECMO. So verbessere etwa dieBauch-
lage des Patientendie Wirkung der
künstlichen Beatmung. Zentralseien
zudem eine optimale Ernährung und
das frühzeitige Erkennen und Behan-
del n von schweren Komplikationen
wie einer Neuinfektion durchBakte-
rien oder einem Schockzustand.

Patientenverfügungist wichtig


Um in der jetzigen Situation die Inten-
sivs tationen nicht unnötig zu belasten,
wäre es lautPargger dringend nötig,
dass sich alle älterenPersonen Gedan-
ken machten, ob sie im Ernstfall künst-
lich beatmet und intensivmedizinisch
behandelt werden möchten oder nicht.
«Idealerweise haben wir bei schwer-
krankenPatienten einePatientenver-
fügung», sagt der Arzt.Auch gut infor-
mierte Angehörige seien hilfreich. «Wir
wollen schliesslich diePatienten nicht
gegen ihrenWillen behandeln.»
Noch sei in der Schweiz derAnsturm
auf die Intensivstationen nicht so gross,
dass man einzelnePatienten abweisen
müss e, sagtPargger. Das könne sich
aber jedenTag ändern. Der Intensiv-
mediziner ist dennoch überzeugt, dass
die schweizweitenVorbereitungen ge-
nügen, um auch extrem viele schwer-
kranke Covid-19-Patienten aufnehmen
zu können.
Trotzdem gelte es schon heute, bei
jedem Patienten nach ein paarTa-
gen Bilanz zu ziehen und sich zu fra-
gen, ob die Behandlung erfolgreich sei
oder nicht. Betrage bei einemPatienten
die Chance, dass er die intensivmedizi-
nischen Massnahmen in guterVerfas-
sung überlebe, zum Beispiel nur zehn
Prozent, müsse man Entscheide fällen.
Deshalb sei es für das Spitalpersonal
so wichtig, den Patientenwillen zuken-
nen – auch in Zeiten ohne Covid-19-
Pandemie.

Ein Covid-19-Patient wird in einemSpital in Cremona aufdem Bauch gelagert,was die Wirkung der künstlichenBeatmung verbessert. FLAVIO LO SCALZO / REUTERS

Sinkt der Blutsauerstoff-


gehalt auch unter


Sauerstoffzufuhr unter


einen bestimmten


Grenzwert, muss der


Patient auf die Intensiv-


station verlegt werden.

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