Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

28 FORSCHUNG UND TECHNIK Mittwoch, 25. März 2020


INTERNATIONALE AUSGABE


Der Frühling wird kaum helfen

Die Hoffnung, dasswarmesWetterdemErreger der Lungenkrankheit Covid-19andieSubstanzgeht,


hat sichzerschlagen. VONSTEPHANIELAHRTZ


Noch imFebruar gingenVirologen welt-
weit davon aus, dass höhereTemperatu-
ren dieVerbreitung des neuen Corona-
virus Sars-CoV-2 erschweren.Dadurch
würde sich die Epidemie imFrühling
ähnlich wie die saisonale Grippe deut-
lich abschwächen – so zumindest die
Hoffnung. Eine Studie von chinesischen
Forschern lieferte vor einem Monat viel-
versprechendeArgumente dafür:Bis da-
hin traten lokale Epidemien ausschliess-
lich inRegionen mitTemperaturen zwi-
schen 4 und 11 Grad auf. Doch nun zeigt


eine neue Analyse, dass diese Hoffnung
trügerisch war.


Überall lokale Ausbrüche


Ein Forscherteam der Harvard Univer-
sityhatsichnämlichdenVerlaufderSars-
CoV-2-Ausbrüche in diversen chinesi-
schen Provinzen und in einigen anderen
Gebieten angeschaut und mit der jewei-
ligen absoluten Luftfeuchtigkeit vergli-
chen.Dabei habe sich gezeigt, dass sich
das Virus nicht nur in trocken-kalten
Regionen, wie esWuhan und die Pro-
vinz Hubei imJanuar undFebruar gewe-
senseien,verbreitenkönne,schreibendie
Autoren.SelbstbeieinerLuftfeuchtigkeit
von 20 Prozentwie inSingapur gelang
es dem Erreger, sich weiterzuverbreiten.


Zwar haben die Harvard-Wissenschaf-
ter nurDaten bis MitteFebruar ausge-
wertet. Doch die vielerorts in Europa
exponentielleAusbreitung desVirus ge-
rade im letzten Monat bestätigt die Be-
fürchtung der Experten, dass derFrüh-
ling alleinkeineAbschwächung bringen
wird.WärmeresWetter mit feuchterer
Luft werde allerVoraussicht nach die
Pandemie nicht verschwinden lassen,
betont der Epidemiologe Marc Lipsitch,
einer der Harvard-Forscher.
HoffnungenaufHilfedurchdenFrüh-
lingberuhtenvorallemaufErfahrungen
mitdemInfluenzavirus.Dieseswirdsehr
instabil, wenn es wärmer und vor allem
feuchter wird.Das hat eineVielzahl von
Studien in den letztenJahren gezeigt.
Im Gegensatz dazu sind jedoch die en-

gen Verwandten von Sars-CoV-2, näm-
lichdasSars-unddasMers-Virus,keines-
wegsnurwintertauglich.Mersverbreitet
sich sogar bei den hohenTemperaturen
in Saudiarabien. Und die Sars-Epide-
mie nahm erst imFrühjahr 2003Fahrt
auf. Lipsitch verweist darauf, dass man
Letztere nur dank äusserstrestriktiven
und effizienten Eindämmungsmassnah-
men in den Griff bekommen habe. Da-
bei half, dass das Sars-Virus im Gegen-
satz zu Sars-CoV-2 viel schwerer über-
tragbarwar und zudem nur die wirklich
krankenPatienten infektiös waren.

Strenge Kontaktminimierung


Auch ein Blick auf andere Coronaviren
hilftnichtweiter.Derzeitweissmannäm-

lich gar nicht genau,welches die optima-
len Überlebensbedingungen für diejeni-
gen altbekannten Coronaviren sind, die
normale Erkältungskrankheiten aus-
lösen. Diese treten zwar erfahrungs-
gemäss auch in einem gewissen saiso-
nalen Rhythmus auf. Doch gemäss Lip-
sitch könnte das weniger an ihren Eigen-
schaften, als vielmehram Verhalten der
Menschen liegen.Weil diese imFrühling
und im Sommer weniger inRäumen eng
beieinander sässen, böten sie denViren
weniger Möglichkeiten, von einem In-
fizierten auf eine anderePerson über-
zuspringen.Das spricht laut Lipsitch für
eine strengeKontaktminimierung in der
gegenwärtigenPandemie.
Zwar schliessen weder der Har-
vard -Forscher noch der deutscheViro-

loge und Corona-Experte Christian
Drosten derzeit aus, dass Sars-CoV-2
eventuell doch eine gewisseTempera-
tur- und/oderFeuchtigkeitssensitivität
aufweist. Doch Lipsitch gibt zu beden-
ken, dass ein neuesVirus es viel leich-
ter habe, auch bei suboptimalen Um-
gebungsbedingungen zu überleben.
Denn zu Beginn einer Epidemie trifft
ein neuesVirus nur auf Menschen,
deren Immunsystem den Erreger noch
nichtkennt; damit sind alle infizierbar.
Selbst wenn dasVirus imFrühling und
So mmer weniger lang überlebt als im
Winter, findet es ausreichendPerso-
nen, die es infizieren kann. Unter die-
sen Bedingungen breitet sich die Epi-
demie weiter aus, warm-feuchtesWet-
ter hin oder her.

Der Ausbruch von Sars-CoV-2-Infektionen war vorhersehbar


Schon vor einemJahrhabenchinesischeForscher vor einer Coronavirus-Epidemiegewarnt


NICOLAVON LUTTEROTTI


Propheten zählen bekanntlich nichts
im eigenenLand. Aber auch ausser-
halb ihrer Heimat erhalten sie häufig
nicht gebührend Beachtung. Ein sol-
ches Schicksal ereilte unlängst auch chi-
nesischeWissenschafter ausWuhan –
der Stadt, in der das neuartige Corona-
virus vermutlich seineWeltreise begon-
nen und besonders heftig gewütet hat.
Anfang März 2019 – und damit vor
fast genau einemJahr – habenPeng
Zhou vom Institut fürVirologie der chi-
nesischen Wissenschaftsakademie in
Wuhan und weitereForscher prophezeit,
von Fledermäusen übertragene Corona-
viren würden in China mit hoherWahr-
scheinlichkeit früher oder später erneut
eine Infektionswelle in Gang setzen.
Ihre Warnungen, veröffentlicht in
einem frei zugänglichen schweizerischen
Fachjournal, sind gleichwohl ungehört


verhallt.^1 Wie ein schlechter Scherz muss
esZhouundseinenCo-Autorenvorkom-
men,dassdiejetzigeEpidemieausgerech-
netinihrerHeimatstadtausgebrochenist.

Ein Sammelbecken fürViren


Fledermäuse, die mutmassliche Quelle
derInfektionskrankheitCovid-19,sindein
wahres Sammelbecken fürViren. Darin
tummeln sich nicht nur Coronaviren,
sondernVertreter einerVielzahl weiterer
Virensorten. Hierzu zählen unter ande-
rem die Erreger derTollwut sowie jene
des Ebola- oder auch des Marburg-Fie-
bers, um nur einige Beispiele zu nennen.
Die Fähigkeit der fliegenden Säuge-
tiere, weite Strecken zurückzulegen,
spielebeiderÜbertragungsolcherMikro-
ben vermutlich eine entscheidendeRolle,
schreiben dieWissenschafter.In China sei
die Gefahr einer Ansteckung des Men-
schen besonders gross. Das treffe vor

allemfürInfektionenmitCoronavirenzu.
Denn zum einen beherbergten die heimi-
schen Fledermäuse unzähligeVarianten
dieserVirenart, und sie lebten sie in der
Nähe des Menschen und seiner Nutztiere.
Hinzukomme die chinesische Ess-
kultur, wonach frisch geschlachtete
(Wild-)Tiere besonders nahrhaft sein sol-
len.Dringlich sei es daher, die Gründe für
die wiederholtenAusbrüche von Corona-
virus-Infektionen zu erforschen, mahnen
ZhouundseineKollegen.Nursokönnees
gelingen,solcheEpidemienzuverhindern.
Wie dieVirologenfernerschreiben ,
könnten manche Fledermaus-Corona-
vi ren den Menschen leichter befallen
als andere. Das gelte unteranderem
für Sars-CoV, den Erreger der Lungen-
krankheit Sars, der 2002 und 2003 meh-
rere TausendPersonen infiziert und etli-
che dahingerafft hat. Denn diesesVirus
nutze als Einfallstor ein auf der Zell-
oberfläche befindliches Protein, das

nicht nur beivielenTieren,sondernauch
beim Menschen vorkomme. Dabei han-
delt es sich um ein Enzym, das ein ge-
fässverengendes Hormon namens An-
giotensinspaltet und kurzACE-2 – von
Angiotensin-Converting-Enzyme-2 –
genannt wird. Zumindest theoretisch ist
der Sars-Erreger somit in derLage, ohne
Zwischenwirt direkt von der Fleder-
maus auf den Menschen zu springen.

Gleiche Eintrittspforte


Dasselbe trifft offenbar auch für das neu-
artige Coronavirus Sars-CoV-2 zu.Jeden-
falls konnten Zhou und seineKollegen
kürzlich zeigen,dass der Urheber der jet-
zigenPandemie über dasselbe Protein in
seine Opfer dringt wie der Erregervon
Sar s, mit dem er eng verwandt ist.^2 Ob
dieser Übertragungsweg in der freien
Wildbahn eine wichtigeRolle spielt,
fledermausstämmige Sars-Viren also

«leichtfüssig» die Artenschranke zum
Menschen überwindenkönnen,lässtsich
noch nicht mit Sicherheit sagen. Zhou
und seineKollegen halten dies allerdings
für wahrscheinlich. Denn Sars-Viren mit
der Fähigkeit, menschlichesACE-2 als
Eintrittspforte zu verwenden, seien in
chinesischen Fledermauspopulationen
weit verbreitet. Bereits vor einemJahr
äusserten sie daher die Sorge, dass solche
Viren in China schon bald wieder eine
neue Sars-Epidemie auslösenkönnten.
Wie sich inzwischen gezeigt hat,
waren die Befürchtungen der For-
scher voll und ganz berechtigt. Zu hof-
fen bleibt, dassWarnungen wie diese in
Zukunft mehr Beachtung finden und es
gelingt,Seuchen wie Covid-19 frühzeitig
zu unterbinden oder ganz zu verhindern.

(^1) Viruses, Online-Publikation vom2. März
20 19;^2 Nature, Online-Publikation
vom3. Februar 2020.
Selbstwenn dasVirus imFrühlingund Sommerweniger langüberlebt alsim Winter, findet es ausreichend Personen, die es infizieren kann. CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ
Zu Beginn einer
Epidemie trifft ein neues
Virus nur aufMenschen,
deren Immunsystem
den Er reger noch nicht
kennt; damit sind alle
infizierbar.

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