Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

INTERNATIONALE AUSGABE


Mittwoch, 25. März 2020 INTERNATIONAL 3


Alle helfen


Italien – ausser


die Europäer


Russen, Chinesen, Kubaner
schickenÄrzte undPfleger

ANDRESWYSLING,ROM

Moskau schickt eine Sanitätseinheit der
Armee in den Kampf gegen das Corona-
virus, insgesamt 120 Ärzte und Pfleger.
14 Flugzeuge sind bisher in Italien ge-
landet, darunter zwei Grosstranspor-
ter desTyps Il-76.DieRussen bringen
laut der Agentur Sputnik News ein gan-
zes Container-Spital mit, samt 100 Be-
atmungsgeräten und 50 0 000Gesichts-
masken und weiterem Material.Dawird
auch ein politisches Zeichen gesetzt.
Aus Havannakommend, ist am Sams-
tag eine Sondermaschine der Alitalia
auf dem Flughafen Mailand-Malpensa
gelandet, mit 53Personen des kubani-
schen medizinischen Dienstes an Bord.
Die Hälfte von ihnen sind auf die Be-
handlung von Infektionskrankheiten
undWiederbelebung spezialisiert, einige
haben laut demParteiorgan «Granma»
in Afrika Erfahrungen mit Ebola ge-
sammelt. Sie werden, auf Einladung der
Region Lombardei, in einem vom Zivil-
schutzaufgebautenFeldspital in Crema
eingesetzt, in einer von derPandemie
besonders betroffenen Gegend.

Ein Medikament wird getestet


DieKubaner waren weniger gut ausge-
rüstet, sie hattenkeine warmen Kleider
eingepackt. Lokale Sportvereine haben
Tr ainingsanzüge zurVerfügung gestellt,
zudem sollen die wegen der Seuche ge-
schlossenen Modegeschäfte in Crema
Kleider spenden.Dafür haben dieKu-
baner das Medikament Interferon Alfa
2B dabei. Sie haben es schon in China
gegen das Coronavirus eingesetzt und
wollen es jetzt in Italien weiter testen.
Die Ersten aber waren die Chinesen,
eine kleine Delegation von neunFach-
leuten, die inWuhan Erfahrungen mit
dem Coronavirus gesammelt hatten.
Sie brachten, ausser wertvollerExper-
tise, 700 Beatmungsmaschinen und wei-
teres medizinisches Gerät mit. Der ita-
lienischeAussenminister Luigi Di Maio
lobte die chinesische Solidarität.
Schlagzeilen machte in Italien der
Vizepräsident des ChinesischenRoten
Kreuzes, Sun Shuopeng, der an einer
Pressekonferenz in Mailand erklärte,
die Massnahmen der Italiener zur Ein-
dämmung derPandemieseien, «gemäss
unseren Standards», also den chinesi-
schen, ungenügend. «Es muss schnell
gehen, man muss das ganzeWirtschafts-
leben stoppen und denVerkehr anhal-
ten», erklärte er vergangeneWoche an
einer Pressekonferenz in Mailandandie
Adresse der italienischenRegierung ge-
richtet. Ein paarTage später wurde seine
Empfehlung dann umgesetzt.

Freiwillige aufgeboten


Etliche Anlaufschwierigkeiten hatte die
inneritalienische medizinische Hilfe. Seit
mindestens zweiWochen ist der Not-
stand in den norditalienischen Spitälern
deutlich. Aber erst seit wenigenTagen
werden Ärzte und Pfleger sowie Ambu-
lanzen aus dem Süden nach Norden ver-
legt. Über 70 00 Leute meldeten sich auf
einenAufruf hin freiwillig, 1500mit Spe-
zialausbildungen werden nun aufgebo-
ten. Ihnen winkt eineTagesprämievon
200 Euro. Manche pensionierte«Weiss-
kittel» haben sich allerdings schon frü-
her auf denWeg gemacht, aus eigenem
Antrieb, um den erschöpftenKollegen
beizustehen. Einige erkrankten, mindes-
tens einer starb, man hatte angeblich nur
eine einzige Gesichtsmaske für ihn.
Durch Abwesenheitglänzen derweil
die europäischenLänder, jedenfalls hört
man nichts von Beistand aus der näheren
oder weiteren Nachbarschaft. InderPan-
demie ist anscheinend jeder sich selbst
der Nächste, auch das ist ein politisches
Zeichen. Die Europäische Union bezie-
hungsweise die EU-Kommission will
verhindern, dass durch unkoordinierte
Grenzschliessungen die Lieferungvon
medizinischem Material verhindert wird.
Im Übrigen erklärt sie sich für nicht zu-
ständig, denn das Gesundheitswesen ist
Sache der Mitgliedstaaten.

Das Misstrauen schwächt Russland


Die Antwort auf das Coronavirus schwankt zwischenBeschwichtigungund Aktionismus


MARKUSACKERET, MOSKAU


In Golochwastowo wirdTag und Nacht
gebaut.Wie in einemWimmelbuch zum
ThemaBaustelle sieht es hier aus: Last-
wagenreiht sich anLastwagen,Bagger
anBagger. Andere bringen weitereAus-
rüstung: mobileToiletten,Röhren,einen
Tr ax. In zwei Monaten, sagt ein Arbei-
ter, sollten sie hier fertig sein. Unter
Aufbringung aller Kräfte wird in dem
Dorf rund 60 Kilometer vom Moskauer
Stadtzentrum entfernt,im ländlichen
Stadtbezirk Neu-Moskau, eine Spezial-
klinik für Coronavirus-Patienten buch-
stäblich aus dem Boden gestampft. Pla-
kate nach dem Muster der sowjetischen
Agitprop zeigen Bürgermeister Sergei
Sobjanin in derPose des Befehlenden:
«Bauarbeiter! Es zählt jede Minute!»


Die Beschwichtigungüberwiegt


Die Eile, mit der dieBauarbeiten vor
zehn Tagen aufgenommen wurden,
steht beispielhaft für die sich täglich
verschärfenden Massnahmen inRuss-
land zurVorsorge und Eindämmung der
Coronavirus-Ausbreitung, primär in der
Hauptstadt. Dererfolgreiche und ambi-
tionierte Sobjanin profiliert sich spätes-
tens seit Anfang März als Krisenmana-
ger. Mag Ministerpräsident Michail Mi-
schustin mit der Schliessung der Grenze
zu China früh ein erstes Zeichen gesetzt
haben, durchbrach Sobjanin dieauch von
Präsident Wladimir Putin gepflegten Be-
schwichtigungen rund um diePandemie
mit einem Aktionismus, der mittlerweile
für das ganzeLandVorbild ist.
Die Diskrepanz zwischen Herunter-
spielen und hektischerTatkraft wird mit
jedemTag,an dem auch dieFallzahlen
steigen, grösser. Ab Donnerstag müs-
sen in Moskau und Umland alle über
65-Jährigen sowie alle Chronischkran-
ken in häusliche Quarantäne. Die Stadt
Moskau will überdies neue Erkrankun-
gen schneller bekanntgeben.Schon jetzt
nimmt die Zahl der Infiziertenrasant zu,
und es gibt gute Gründe zur Annahme,
dass vieleFälle gar nie offiziell bekannt
werden.
Die «Selbstisolation» bei derRück-
kehr aus demAusland war von Anfang
an lückenhaft,ebenso die Nachverfol-
gung der Infektionen. Die Argumen-
tationslinie derRegierung und ihrer
medialen Handlanger, dasVirus werde
lediglich eingeschleppt, sei also etwas
«Ausländisches» und verbreite sich im
Land selbst bisanhin kaum, mag die
Bevölkerung noch in Sicherheit wiegen,


dürfte aber nicht mehr lange durchzu-
halten sein.
Die Kluft zwischen den unterschied-
lichen Botschaften verwirrt eine Bevöl-
kerung, die ohnehin wenigVertrauenin
den Staat und seineRepräsentanten hat.
Sobjaninmag mit seinen Massnahmen
recht haben – viele Bürger nehmen sie
nicht ernst, halten alles für eineAufwie-
gelung durch die Medien. Andere ver-
muten, die Behörden führten etwas im
Schilde und verheimlichten die wahren
Ausmasse. Jene, die vor kurzem zuTau-
sendenReliquien vonJohannes dem
Täufer küssten, hoffen auf die Kraft
Gottes. Zugleich schicken immer mehr
Firmen und auch Behörden ihre Mit-
arbeiter nach Hause. DieRestaurants
leeren sich, die Zahl der U-Bahn-Fahr-
ten ist um ein Drittel zurückgegangen.
SeitWochen nehmen die Gerüchtezu.
Von einer Häufung von «Lungenentzün-
dungen» ist dieRede, seit Ende vergan-
genenJahres; die Behörden dementie-
ren das. Medien berichten von Plänen für
denAusnahmezustand und zur Abriege-

lung der Hauptstadt.Auf das Dementi
folgen bestätigte Berichte darüber, bis
Ende März habe diePolizeiVorberei-
tungen für eineAusgangssperre zu tref-
fen. So wird dieFurcht vor derWillkür
des Staates noch angeheizt.Dass dieser
immeröfter angebliche «Fake-News»
über die Corona-Krise verfolgen lässt,
zeigt die Nervosität der Behörden.
Das staatliche Gesundheitswesen ist
ein Sektor, den die meistenRussen für
marode und kaum vertrauenswürdig
halten.Wer es sich leistenkonnte, zog
zumindest in den Grossstädten immer
schon Privatspitäler der örtlichenPoli-
klinik vor. Beim Coronavirus geht das
nicht mehr. Daran Erkrankte undVer-
dachtsfälle werden in staatliche Einrich-
tungeneingewiesen. DieFurcht davor,
im staatlichen Gesundheitswesen unge-
nügend behandelt zu werden, hat gra-
vierendeKonsequenzen: AuchPerso-
nen mit begründetemVerdacht auf eine
Coronavirus-Infektion versuchen diese
so lange wie möglich zu verheimlichen,
um nicht in dieFänge des Staates zu ge-

raten.Wenngleich das für die Betroffe-
nen selbst die beste Lösung sein mag,
verhindert es die Nachverfolgung ihrer
Kontaktpersonen.

Die Politik hatPriorität


In Krisenzeiten wie diesen zeigt sich die
verletzliche Seite des autoritären russi-
schen Staates besonders: der eklatante
Mangel anVertrauen. Der Staat vermit-
telt den Bürgernkeine Sicherheit, son-
dern löst bei ihnen Ängste aus. Statt in
den zwanzigJahren seiner Herrschaft
vertrauenswürdige Institutionen zu
schaffen, höhlte Wladimir Putin diese
gezielt aus. Die Usurpation, in der die
Verfassungsänderungen gipfeln und die
just mit derPandemie und einer sich
abzeichnendenWirtschaftskrise zusam-
menfällt, wird sogar mit dem angeb-
lichenFehlen stabiler Machtverhält-
nisse begründet. Noch wird inRussland
derPolitik –Verfassungsabstimmung,
Siegesfeier am 9. Mai – Priorität einge-
räumt. Die Bevölkerung ist zweitrangig.

In einemAussenbezirk von Moskau wird fieberhaft an einemneuen Spitalfür Corona-Patienten gebaut. XINHUA / IMAGO

Island testet so umfassend wie kein anderes Land


PrivatesBiotech-Unternehmen stellt bedeutendeKapazitätenzur Verfügung


RUDOLF HERMANN


Schaut man sich die oft zitierteWeb-
siteWorldometers.info ab, welche Sta-
tistiken über Erkrankungen an Co-
vid-19 publiziert, nehmen sich die An-
gaben zu Island furchterregend aus. Mit
1665 erfasstenFällen pro Million Ein-
wohner liegt die Insel im Nordatlantik
weit vor Italien (978) oder der Schweiz
(898; Angaben per 22. März). Dies ist
aber vor allem dem Umstand geschul-
det, dass Island mit 364 000 Einwohnern
eine kleine Bevölkerung hat, in der sich
jeder einzelneFall prozentual stärker
auswirkt als in grossenLändern.
Zweitens testet Island so umfassend
wiekein anderer Staat derWelt. Bis
Sonntag sind laut offiziellen Angaben
mehr als 10 00 0 Proben verarbeitet wor-
den, was rund 28 000 getestetenPerso-
nen pro Million Einwohner oder 2,8 Pro-
zent der Bevölkerung Islands entsprach.
Das isländische Gesundheitswesen
nimmt Untersuchungen nur beiPerso-
nen vor, dieSymptome von Covid-
aufweisen.Danebenkönnen sich die
Isländer aber seit Mitte März freiwillig
testen lassen,auch wenn siekeine An-


zeichen der Krankheit zeigen. Diese
Tests erfolgen durch das inReykjavik
ansässige Unternehmen Decode Gene-
tics, eineTochtergesellschaft des ameri-
kanischen Biotech-Konzerns Amgen.
Landspitali, das isländische Zentral-
spital inReykjavik, hat laut dem CEO
von Decode Genetics, Kari Stefansson,
nur beschränkteTestkapazitäten. Des-
halb wolle seineFirma, die entspre-
chendeLabors wie auchAusrüstung und
nötigesFachpersonal habe, helfen.Das
Engagement von Decode Genetics hat
dieTestkapazitäten deutlich gesteigert.
AmWochenende musste das Unterneh-
men seine Aktivität jedoch wegen eines
Engpasses bei den Abstrich-Tupfern vor-
übergehendreduzieren.

Genforscher sammeln Daten


Bei Decode Genetics will man mit den
breitenTests mehr über dasVirus ler-
nen:Wie bewegt sich der Erreger? In
welchen Mutationen existiert er wo?
Insbesondere will man laut einer Mit-
teilung der isländischenRegierung auch
entschlüsseln, in welcherVariante er bei
Personen mit einem positiven Befund

auftritt. Solche Informationenkommen
auch den Gesundheitsbehörden zugute,
die ihre Strategie zur Eindämmung der
Pandemie auf den Erkenntnissen der
Genforscher aufbauenkönnen. Bereits
will auch Schweden die Idee von nicht
primär aufVerdachtsfälle ausgerichte-
tenTests umsetzen, wenn auch bloss auf
derBasis von Stichproben.
Dieersten AnalysenvonDecode
Genetics zeigen lautThorolfur Gudna-
son, dem Leitenden Epidemiologen des
Landes, dass von den zwischen dem 13.
und dem19. März getesteten 46 00 Perso-
nen aus der breiten Bevölkerung 33 mit
dem Coronavirus infiziert waren.Das
entspricht einer Infektionsrate von weni-
ger als einem Prozent. Von den positiv
Getesteten habe die Hälfte garkeine, die
andere mildeSymptome gezeigt. Man
leite daraus ab, dass sich dasVirus vorerst
langsam ausbreite. Die bis zum gleichen
Datum durchgeführten 3200Tests durch
das isländische Gesundheitswesen, die
Personen mitSymptomen betrafen und
solche, bei denen einVerdacht auf An-
steckung bestand, ergaben hingegen 297
positive Befunde, also eine Infektions-
rate von knapp zehn Prozent.

Mit dem gewähltenVorgehen sieht
man sich auf dem richtigenWeg.Man
habe Anhaltspunkte, dass die Strategie
bisher funktioniert habe, sagt der Lei-
tende Epidemiologe Gudnason. Das
Virus breite sich in Island langsamer aus
als in anderen nordischenLändern. Bis
dato seienPersonen, die bereits unter
Quarantäne gestellt worden seien, für
die Hälfte der diagnostizierten Covid-
19-Fälle verantwortlich. In Quarantäne
befinden sich zurzeit 6300Personen.

Höhepunkt im Aprilerwartet


Doch während die ersten Infektionenzu-
rückverfolgt werdenkonnten (betroffen
waren ab dem 28.Februar mindestens 90
Rückkehrer aus den Skiferien in Öster-
reichund Italien), beginnen sich die Spu-
ren der Infektionskettenauch in Island
langsam zu verwischen. Seit Mitte letzter
Woche nehmen dieFallzahlen sprung-
haft zu; bei einem Drittel der Infektionen
ist der Ursprung inzwischen unbekannt.
Die Direktorin des isländischen Gesund-
heitswesens, Alma Möller, erwartet den
Höhepunkt der Infektionswelle im Insel-
staat in der ersten Hälfte des Aprils.
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