Neue Zürcher Zeitung - 25.03.2020

(coco) #1

INTERNATIONALE AUSGABE


Mittwoch, 25. März 2020 WIRTSCHAFT 7


Das Coronavirus wird auch tiefe Löcher


in die Kassen der Rückversicherer reissenSEITE 9


Berlin hat ein Hi lfsprogramm besc hlossen, das noch über


die bereits angekündi gte «Bazooka» hinausgehtSEITE 10


Krisendarlehen ohne Rückzahlungspflicht?


Die Finanzdelegationdes Parlaments unterstützt das bundesrätliche Notpaketfür die Wirtschaft und lässt dabei aufhorchen


HANSUELI SCHÖCHLI


In dieser ausserordentlichenLage ist
der Bundesrat klar imFührersitz. Doch
dasParlament ist trotz Abbruch sei-
ner März-Session noch am Leben. Ein
Lebenszeichen lieferte dieserTage die
sechsköpfigeFinanzdelegation desPar-
laments. Sie hat am Sonntag und am
Montag die vorgeschlagenen dring-
lichen Zusatzausgaben des Bundes be-
raten, die im Hilfspaket derRegierung
für dieWirtschaft enthalten sind.Da-
bei geht es um Zusatzausgaben für to-
tal fast 31 Mrd.Fr. Die drei grössten
Posten sind eine Zusatzfinanzierung für
die Arbeitslosenversicherung (ALV)
von 6 Mrd.Fr., ein Bundesbeitrag von
4 Mrd.Fr. für Erwerbsersatzleistungen
für Corona-geschädigte Selbständige
und Angestellte sowie einVerpflich-
tungskredit von 20 Mrd.Fr. wegen der
Bundesbürgschaften für die offerierten
Überbrückungskredite derBanken an
Betriebe mit Liquiditätsengpässen.
DieParlamentsdelegation hat nun
ihr Plazet zumPaket gegeben. EinVeto
hätte sich die Parlamentariergruppe
politisch wohl kaum leistenkönnen.
Die derzeit leidenden Betriebe gelten
zwar einzeln nicht als «systemrelevant»,
doch man mag angesichts der Breite der
Betroffenheit von einer Artkollektiver
Systemrelevanz sprechen. Der Präsident
der Delegation, der Zuger CVP-Stände-
rat Peter Hegglin, sprach amMontagvor
den Medien in Bern von einem «ausge-
wogenen»Paket, das die massgebenden
Bereiche abdecke. DemVernehmen
nach war eine Etappierung der vorge-
schlagenen Zusatzausgaben zur Diskus-
sion gestanden, doch am Ende wurde
das Gesamtpaket bewilligt.


Verlust gehört zum Programm


Am meisten Gesprächsstoff lieferte laut
Hegglin das Programm zu den Liquidi-
tätshilfen für Betriebe. Die Kredite wer-
den von denBanken vergeben; der Zins-
satz dürfte zwischen 0 und 1% liegen,
soll aber erst diesen Mittwoch vom Bun-
desrat definitiv verkündet werden. Ein
Riesengeschäft soll die Sache für die
Banken nicht werden, doch der Gross-
teil derVerlustrisiken liegt beim Bund.
Dieser haftet fürAusfälle bei Krediten


bis 500 000 Fr. voll und bei darüber hin-
ausgehenden Beträgen zu 85%.
Der Begriff «Solidarbürgschaft» hat
in der Bundespolitik einen schlechten
Klang,weil der Bund im Zusammen-
hang mitderHochseeschifffahrt grosse
Verluste eingefahren hatte. ZumTeil
gab es deswegen Skepsis, doch imFall
der Corona-Notkredite gehörenVer-
luste für den Bund sozusagen zum Pro-
gramm;insgesamt wären aus heutiger
SichtVerluste aus den Kreditbürgschaf-
ten in total ein- bis zweistelliger Milliar-
denhöhekeine Überraschung. DieLauf-
zeit der Kredite soll typischerweise fünf
Jahre betragen.Peter Hegglin sagte be-
merkenswert offen, was manche den-
ken: In einer späteren Phase bestehe die
Möglichkeit, dass der Bund auf gewisse

Rückzahlungsforderungen verzichte.
Die Überlegung:Viele Kleinbetriebe
mögenkeineReserven haben und wür-
den bei Ertragsausfällen von mehreren
Monaten in denKonkurs und dann in
die Sozialhilfe getrieben; in solchenFäl-
lenkönne es gescheiter sein, aufRück-
forderungen zu verzichten.
In diesem Sinn äussern sich auchPar-
lamentarier, die nicht in derFinanzdele-
gation sitzen, aber selber als Unterneh-
mer tätig sind. Kleinbetriebekönnten
die Kredite oft nicht zurückzahlen, sagt
die Zürcher SP-NationalrätinJacqueline
Badran; ein solcher Kredit «verzögert nur
dieKonkurswelle». Der grünliberale Ber-
ner NationalratJürgGrossen will laut
eigenen Angaben zwarkeineVollkasko-
Versicherungsdeckung durch den Staat,

doch der Bund solle denjenigen Betrie-
ben, die er selber zwangsgeschlossen
habe, die Einnahmenausfälle während
der Zwangsschliessung ersetzenohne
Rückforderungen.Laut Grossen kann
dieAussicht auf eineRückzahlungs-
pflicht manche Betriebe voneinem Kre-
ditgesuch abhalten, «weil eigentlich klar
ist, dass sie das auch über vieleJahre nicht
zurückbezahlenkönnen».

RunderTisch zumMietproblem


Gemäss Grossen ist zudem die Ober-
grenze der vorgesehenen Liquiditäts-
hilfen von jeweils 10% desJahresumsat-
zes des betroffenen Betriebs für Kleinfir-
men «wohl zu tief, wenndie Krise mehr
alseinbis zwei Monate» dauere. Wie sol-

len, so fragt der grünliberale National-
rat, betroffene Betriebe ohne Einnah-
men die Mieten und andereKosten be-
zahlen?LautJacquelineBadran sollte
der Bund für Mieten vonLadenlokalen
und Geschäftsräumen von Corona-ge-
schädigten Betrieben einen Miet-Erlass
verordnen. Ein runderTisch mitVer-
mietern, Mietern und Bundesvertretern
wird sich dieserTage unter anderem mit
dieserFrage befassen.

Weitere Ausbauforderungen


Auch der andere grosseTeil des Not-
paketskönnte sehr teuer werden.Da-
bei geht es vor allem umKurzarbeits-
entschädigungen der ALV sowie um
Erwerbsersatz-Zahlungen für Selbstän-
dige und gewisse Angestellte. Auch da-
bei fehlt es nichtan weiteren Ausbau-
forderungen.Ja cquelineBadran und
JürgGrossen monieren zum Beispiel,
dass die neu vorgesehenePauschale von
monatlich 3 320 Fr. Kurzarbeitsentschä-
digung für eineVollzeitstelle fürTeilha-
ber von Aktiengesellschaften und ande-
ren juristischenPersonen zu knapp be-
messen sei. LautBadran wären etwa
6000 Fr. angemessen.
Badran erachtet auch das vorge-
sehene Maximum des Erwerbsersatz-
Taggelds für selbständige Einzelunter-
nehmer von 196 Fr. (à 30Tage pro
Monat) angesichts der oft hohenFix-
kosten betroffener Unternehmen wie
Restaurants, Fitnessstudios und Coif-
feursalons als zu tief. ImWeiteren sei
der Begünstigtenkreis für solche Er-
werbsersatz-Gelder nichtauf Unterneh-
men zu beschränken, die wegen behörd-
licher Massnahmen gegen das Corona-
virus nicht mehr tätig seinkönnten; zu
unterstützenseienauch indirekt betrof-
fene Unternehmer wie etwa Drucker
oder Grafiker, denen die Umsätze weg-
gebrochen seien.
Am Ende wird es auf eine Art Opfer-
verteilung in der Grössenordnung einer
zwei- bis schlimmstenfalls dreistelli-
gen Milliardensumme auf Steuerzahler,
Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Selbstän-
dige,Vermieter und Mieter hinaus-
laufen. Die genaueVerteilung wird wohl
noch Gegenstand diverserKorrekturen
sein. Der Bundesrat tastet sich in diesem
Tunnel Schritt um Schritt voran.

Betriebe wieRestaurants, die durch die Krise finanziell inSchwierigkeiten geraten, erhalten einen Notkredit. GIAN EHRENZELLER / KEYSTONE

Betriebsschliessungen haben ungeahnte Folgen


Laut den WirtschaftsverbändensindBetriebsschliessungen«unbedingt zu verhindern» – ihren Mitgliedern ratensie t rotzdem ab, sichdagegenzuwehren


GIORGIOV. MÜLLER


AmWochenende hat der KantonTes-
sin angeordnet, zur Eindämmung der
Corona-PandemiealleBetriebe des Kan-
tons für zweiWochen zu schliessen. Mar-
tinDumermuth vom Bundesamt fürJus-
tiz bezeichnete diesen Alleingangan der
Medienkonferenz am Montag als einen
rechtswidrigen Schritt der kantonalen
Behörden und einen eindeutigenVe r-
stoss gegen Bundesrecht, das in dieser
NotfallsituationVorrecht habe. «Doch
Betriebekönnen sich zurWehr setzen»,
meinte er. Ob sie auchrecht bekämen
und ihnen eine aufschiebendeWirkung
zugestanden würde, um den Betrieb
trotzdem offen zu halten, liess er offen.


Gegen rechtlicheSchritte


Nicht überraschend bedauern es die
Industrieverbände sehr, wenn Be-
triebe geschlossen werden. Sie wei-
sen vor allem aufdie zahlreichenun-
erwünschten Nebeneffekte hin, die da-
durch entstehen. In der heutigenkom-


plexen und stark vernetztenWirtschaft
sind die Abhängigkeiten zwischen den
Firmen enorm.DerNachteil der effi-
zienten Arbeitsteilung sind eng ver-
wobene Lieferketten.Fehlt ein Glied,
bricht die ganze Kette.Deshalb ist
auch die Unterscheidung, welcheFir-

men für lebenswichtigeProdukte und
Dienstleistungen offen bleiben sollen
und welche zwecksEindämmung des
Ansteckungsrisikos vorübergehend ge-
schlossen werdenkönnen, fast unmög-
lich. Zum Beispiel stellt auch ein Her-
steller von Beatmungsgeräten nicht
alle benötigtenTeile selbst her. Muss
sein Lieferant schliessen, stoppt auch
die Produktion dieser überlebenswich-
tigen Geräte. Tr otzdem wollen die
Industrieverbände in dieser Extrem-

situation nicht noch mehr Öl insFeuer
giessen. Er habe seinenTessinerKolle-
gengeraten, sich nichtgegen dieVer-
fügung des Kantons zu wehren, sagte
JürgMarti, Direktor vonSwissmecha-
nic. Der Verband vertritt rund 1400 pro-
duzierendeFirmen mit mehr als 70 000
Mitarbeitern, vor allem kleine und mit-
telgrosse Betriebe. In einemSchreiben
hat er zuWochenbeginn seine Mitglie-
der indes eindringlich aufgefordert, die
Weisungen des Bundes in Sachen Ge-
sundheits-, Hygiene- und Abstandsvor-
schriften «strikt undkonsequent» um-
zusetzen. Nur auf dieseWeisekönne
verhindert werden, dass es zu weite-
ren einschneidenden Einschränkungen
durch den Bundkomme. Es liegtalso
in derVerantwortung der Arbeitgeber
und ist in ihrem eigenen Interesse, dass
es nicht zum Extremsten, der Einstel-
lung der Produktion,kommt.

Positives Echo


Laut Marti ist das Echo der Unterneh-
men auf das Hilfspaket des Bundes posi-

tiv gewesen. Er habeKenntnis vonFir-
men, die Mitarbeiter aus Risikogrup-
pen freiwillig nach Hause geschickt hät-
ten. «Der Dialog zwischenArbeitgeber
und Arbeitnehmer findet statt.» Bis jetzt
sind ihm nochkeine schwarzen Schafe
bekannt.Als Arbeitgeberorganisation
dürften hingegen Mitarbeiter, die viel-
leicht andererMeinung sind, ihre Be-
denken eher gegenüber den Gewerk-
schaften, die sich für Betriebsschliessun-
gen aussprechen, geäussert haben.
Auch der IndustrieverbandSwiss-
mem, der für die grossen Industrie-
firmen spricht, empfiehlt seinenTessi-
ner Mitgliedern, nicht denRechtsweg
gegen die kantonaleVerfügung vom
Samstag zu beschreiten. Zudem seien
dieAusnahmebewilligungen vom Kan-
tonrecht grosszügig ausgelegt worden,
sagtSwissmem-Präsident Hans Hess
im Gespräch. Hingegen seien bei eini-
genFirmen am Montag die Mitarbei-
ter einfach nicht zur Arbeit erschienen,
weshalb es zur Einstellung der Produk-
tion gekommen sein dürfte,selbst bei
Betrieben, die über eineAusnahme-

bewilligung verfügt hätten.Grundsätz-
lich müssen Betriebsschliessungen laut
Hess «unter allen Umständen» ver-
hindert werden. Sei diesdennoch der
Fall, sei esäusserst wichtig, die Produk-
tion nicht vollständig einzustellen, weil
dann den Unterlieferanten dieLuftab-
geschnitten werde. Derzeit sei er daran,
einRundschreiben an die Mitglieder
zu verfassen. Die wichtigsten Punkte:
«Macht nicht aufPanik,fährt die Pro-
duktion nicht zu stark runter, und bei
der Liquiditätwird euch geholfen.»

EinGeben und Nehmen


Mit dem Appell von Swissmechanic
will derVerband dieFirmen motivie-
ren, mit einem vorbildlichenVerhal-
ten die Produktion aufrechtzuerhalten.
Gleichzeitig sollten sie daran erinnert
werden, dass der Bund in finanzieller
Sicht gegenüber derWirtschaft gerade-
stehe,meint Marti. Zur Unterstützung
derFirmen ist am vergangenenFreitag
ein 42-Mrd.-Fr.-Hilfspaket geschnürt
worden.

Nicht Profitgier,
sonder n Verantwortung
Kommentar auf Seite 14
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