Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

Schlechte Diagnose


... und steigende Unzufriedenheit
Umfrage unter Intensivpflegekräften

Fehlende
Mitarbeiter ...
Offene Stellen
in der deutschen
Krankenpflege
Quellen:
Bundesagentur
für Arbeit, DKG

2016 Dez. 2019

9800

13 600

17 000

2014

»Haben Sie den Eindruck, dass
die Arbeitsbelastung in den letzten
Jahren deutlich zugenommen hat?«

»Wollen Sie den Beruf in den
kommenden fünf Jahren verlassen?«

Online-Umfrage von DGIIN und Marburger Bund
vom 14. bis 21. Januar 2019; 2498 Befragte

Ja:
97 %

Nein:
3%

Nein:
63 %

Ja:
37 %

... schlechter Personalschlüssel ...
Patienten pro Pflegekraft
im internationalen Vergleich
Deutschland 13,

Großbritannien 8,

Niederlande 6,

Schweiz 7,

USA 5,

Quelle: OECD

dei, Attilio Fontana. Weil es in der italieni-
schen Krisenregion nicht genügend Be -
atmungsgeräte gibt, müssen Ärzte täglich
neu entscheiden: Wer wird beatmet – und
wer muss sterben?
Diese grausame Wahl nennt man
»Triage«, vom französischen »trier« (aus-
suchen). Das Verfahren stammt ursprüng-
lich aus der Militärmedizin. Gibt es ganz
plötzlich massenhaft Verletzte, müssen
Prioritäten vergeben werden. Rettungs-
kräfte sichten die Opfer und verteilen dann
Armbänder oder Anhängekarten, die
meist mit Farben codiert sind.
Rot steht für Patienten, die eine sofortige
Behandlung bekommen müssen. Gelbe Pa-
tienten können warten, wer mit der Farbe
Grün gesichtet wurde, hat die niedrigste
Pri orität, muss am längsten auf Hilfe warten.
Fast gar nichts mehr tun die Helfer für Pati -
enten der Kategorie Blau. Sie sind so schwer
verletzt oder erkrankt, dass jede Bemühung
unter diesen Umständen sinnlos wäre.
In Deutschland muss womöglich bald
ähnlich vorgegangen werden.
Ein Chefarzt aus dem Rheinland ge-
stand dieser Tage einem Kollegen, er habe
7 Beatmungsgeräte in seiner Klinik. Er
brauchte 13, um eine größere Welle an
schweren Infektionsfällen überstehen zu
können.
Diese Welle wird kommen, so viel ist
gewiss. »Wir schätzen, dass es in den
nächsten zwei Wochen richtig losgeht auch
bei uns in Deutschland«, sagt der Ge-
schäftsführer der München Klinik, Axel
Fischer. In seinem Haus wurde Ende Ja -
nuar der erste deutsche Infizierte behan-
delt. Er fürchtet »massive Auswirkungen«
der Krise.
Das Coronavirus legt in aller Brutalität
jene Probleme offen, die das deutsche Ge-
sundheitssystem seit Jahren belasten: die
Tücken der profitgetriebenen Klinikfinan-
zierung. Den Sparzwang, den chronischen
Mangel an Pflegepersonal. Die oft schlech-
te Ausstattung der Gesundheitsämter. Den
Rückstand bei der Digitalisierung.
»Wir bereiten uns auf die drohende Ka-
tastrophe vor, sagt Rudolf Mintrop, Chef
des Klinikums Dortmund. Er rechnet mit
10 bis 14 Tagen, bis die große Welle ihre
volle Wucht entfaltet. Die Kanzlerin
warnt, deutsche Krankenhäuser wären
»völlig überfordert, »wenn in kürzester
Zeit zu viele Patienten eingeliefert würden,
die einen schweren Verlauf der Corona-
Infektion erleiden.«
Die Frage von Leben und Tod wird am
Ende auf den Intensivstationen entschie-
den. Die Antwort hängt davon ab, wie vie-
le Beatmungsbetten dort stehen, wie viele
Ärzte einsatzbereit sind und wie viele Pfle-
ger in der Lage sind, sich um schwerstkran-
ke Patienten zu kümmern.
Um den Kollaps auf den Intensivstatio-
nen zu verhindern, hat die deutsche Politik


drastische Maßnahmen ergriffen und das
Leben im Land zum Stillstand gebracht.
Sie hat Geschäfte geschlossen, Grenzen
abgeriegelt, Schulen, Kitas und Spielplätze
gesperrt. Dahinter steht die nackte Angst
vor dem tausendfachen Erstickungstod.
Hintergrund ist die drohende Knapp-
heit bei den Beatmungsgeräten. In deut-
schen Kliniken gibt es derzeit rund 25 000
einsatzbereite Geräte. Die Bundesregie-
rung bemüht sich zwar um Tausende wei-
tere Apparate, aber deren Produktion und
Lieferung kann dauern. Zwar sind hierzu-
lande weit mehr Geräte als in Italien vor-
handen, es steht auch mehr Personal zur
Verfügung, das diese professionell bedie-
nen kann. Dennoch, so die Furcht vieler
Ärzte und Experten, könnte es auch hier
zu einem Engpass kommen.
Wie viele Infizierte in Deutschland be -
atmet werden müssen, hängt davon ab, ob
die Bürger beherzigen, was Virologen und
Politiker seit Wochen anmahnen: soziale
Selbstisolierung. Je konsequenter jeder
Kontakt vermieden wird, umso größer
sind die Chancen, das rasante Wachstum
der Neuinfektionen zu bremsen.
Ebenso entscheidend aber ist, ob die
Ärzte und Klinikchefs mitziehen und ihre
Häuser für den erwarteten Ansturm der
Corona-Patienten freiräumen. Zumal es
häufig schon im Normalbetrieb an Pflege-
kräften und Ausrüstung mangelt.
Bislang verspricht das deutsche Gesund-
heitssystem jedem Versicherten eine gute
Versorgung, eine wirtschaftliche Therapie
nach aktuellem Stand der Wissenschaft,
so steht es im Sozialgesetzbuch. Einschrän-
kungen sind nicht vorgesehen. »Rationie-
rung« ist ein Wort, das unser Gesundheits-
system bislang nicht kannte. Aber es
scheint, als müssten wir uns daran ge -
wöhnen, ebenso wie an das Gruselwort
»Triage«.
In den Kliniken jedenfalls hat der
Kampf gegen das Virus begonnen. Die
kommenden Wochen werden darüber ent-
scheiden, ob er zu gewinnen ist.

Die Intensivbetten
Vergangene Woche sandte Gesundheits-
minister Jens Spahn einen persönlichen
Brief an die Geschäftsführer der fast 2000
Krankenhäuser in Deutschland. Um genug
Intensivbetten freizuhalten, sollen »grund-
sätzlich alle planbaren Operationen und
Eingriffe in allen Krankenhäusern ab Mon-
tag auf unbestimmte Zeit verschoben und
ausgesetzt werden«. Fast flehentlich bat
Spahn darum, Ärzte aus dem Ruhestand
zu holen, Studierende einzusetzen, mehr
Intensivbetten bereitzustellen. »Jetzt.«
Einige Klinikchefs wie Michael Albrecht
vom Universitätsklinikum Dresden folgten
artig. Es würden gezielt Betten freigeräumt,
Operationen wenn möglich verschoben.

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