Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
Viele Experten sind inzwischen der Mei-
nung: Erst ein Impfstoff kann helfen, das
Virus zu besiegen und so den globalen Aus-
nahmezustand zu beenden.
Eine vor wenigen Tagen veröffentlichte
Modellrechnung von Forschern des Impe-
rial College London legt nahe, dass es zwar
möglich wäre, die Quarantänemaßnahmen
wieder zu lockern, wenn der exponentielle
Anstieg der Covid-19-Erkrankungen fürs
Erste gebremst worden ist. Doch nach ei-
ner Lockerung der Alltagsbeschränkungen
werde es unweigerlich zu einer erneuten
Zunahme der Infektionen kommen, so die
Prognose – woraufhin neuerliche Schul-
schließungen, Reisebeschränkungen und
Veranstaltungsverbote drohten.
Zunächst würde ein Impfstoff eingesetzt
werden, um Ärzte, Pfleger und Risiko -
patienten wie ältere Menschen und Men-
schen mit Vorerkrankungen wie Bluthoch-
druck und Diabetes zu schützen. Doch
möglichst rasch sollte er allen Menschen
zur Verfügung stehen. »Selbst bei Grup-
pen mit scheinbar geringem Risiko, wie
gesunden und jungen Menschen, sehen
wir schwere Verläufe«, berichtet Caitlin
Rivers, Epidemiologin an der Johns Hop-
kins Bloomberg School of Public Health.
»Ich denke, eine Impfung ist auf jeden Fall
notwendig.«
Die internationale Impfstofforganisa -
tion Coalition for Epidemic Preparedness
Innovations (Cepi), die auch vom Bundes-
forschungsministerium gefördert wird,
setzt deshalb alles daran, die Entwicklung
einer Coronavirus-Vakzine zu beschleuni-
gen. Bislang unterstützt Cepi acht For-
schergruppen und Unternehmen mit ins-
gesamt 29,2 Millionen Dollar und Know-
how, darunter Moderna und die Tübinger
Impfstofffirma CureVac.
»Wir wollen helfen, die Flaschenhälse
der Entwicklung schnell zu überwinden«,
sagt Melanie Saville, Leiterin der Impfstoff-
entwicklung bei Cepi. »Wie schnell wir
sind, hängt auch davon ab, ob wir es schaf-
fen, viele Dinge gleichzeitig anzupacken.«
Einen Impfstoff gegen das neuartige Co-
ronavirus zu entwickeln wird nicht einfach
werden. »Es ist wichtig, dass der Impfstoff
sowohl zur Produktion von Antikörpern
als auch zur Aktivierung von bestimmten
Immunzellen führt«, erklärt Volker Gerdts,
Direktor und Geschäftsführer der kanadi-

N


eal Browning, 46, ein Software-
Ingenieur bei Microsoft, ist
niemand, der das Risiko sucht.
In seinem Haus nördlich von
Seattle pflegt er eine Weinsammlung mit
Hunderten Flaschen. Er kocht gern für
seine Nachbarn, am liebsten Steak im
Sous-vide-Garer.
Doch seit Montag ist er plötzlich auch
ein amerikanischer Held: Proband Num-
mer zwei in der allerersten Impfstoffstudie
im Kampf gegen die Atemwegserkrankung
Covid-19, die derzeit die Welt in einen
Ausnahmezustand versetzt.
In einem Gesundheitszentrum in Seattle
stach ihm am Montag um kurz nach neun
Uhr ein Mitarbeiter eine Nadel in seinen
Oberarm und verabreichte ihm auf diese
Weise einige Mikrogramm einer Substanz
mit dem Kürzel mRNA-1273. Dieser Impf-
stoffkandidat des US-Unternehmens Mo-
derna soll menschliche Zellen so umpro-
grammieren, dass sie sich in Virusbaustein-
fabriken verwandeln und auf kontrollierte
Weise Coronavirusproteine produzieren.
Auf diese Weise soll im Organismus eine
Infektion mit dem neuartigen Erreger simu-
liert werden, sodass das Immunsystem ei-
nen Schutz gegen das Virus entwickeln
kann – nur ohne die teils schweren Neben-
wirkungen einer echten Corona-Infektion.
Insgesamt 45 Probanden sollen in den
nächsten Wochen diesen Impfstoff verab-
reicht bekommen. Aber es wird Monate
dauern, bis feststeht, ob er tatsächlich an-
schlägt.
Browning erfuhr von der Studie Ende
Februar über Facebook. Er sagt, er sei so-
fort interessiert gewesen. Er besprach sich
mit seiner Freundin, einer Krankenschwes-
ter, dann meldete er sich freiwillig. Als Auf-
wandsentschädigung erhält er 1100 Dollar.
Es gab damals in seinem Bundesstaat Wa-
shington erst einen einzigen bestätigten
Corona-Fall; inzwischen sind es über tau-
send. »Ich habe an meine beiden Töchter
gedacht«, sagt Browning. »Daran, wie sie
jedes Jahr ihre Grippeimpfung bekommen
und wie eine Impfung gegen das Corona-
virus sie schützen könnte.«
12 bis 18 Monate, so Anthony Fauci,
Direktor des National Institute of Allergy
and Infectious Diseases, werde es wohl
dauern, bis ein Impfstoff gegen das neu -
artige Coronavirus zur Verfügung steht.


schen Impfstofforganisation VIDO-Inter-
Vac, die selbst seit Januar an einem Coro-
navirus-Impfstoff arbeitet. »Nur dann
kann man erwarten, dass er auch gut wirk-
sam ist.«
Die seit vielen Jahrzehnten bewährte
Methode, einfach ein abgetötetes Virus als
Impfstoff zu verwenden, könnte bei Co-
ronaviren möglicherweise dazu führen,
dass Geimpfte besonders schwer erkran-
ken. So könnten Antikörper gebildet wer-
den, die es den Erregern sogar erleichtern
würden, in die Körperzellen einzudringen.
Auch das neuartige Virus ausreichend
abzuschwächen gestaltet sich vermutlich
schwierig.
Auf der Liste der Weltgesundheits -
organisation WHO finden sich unter den
41 Covid-19-Impfstoff-Kandidaten, an de-
nen Forschungsgruppen und Pharmafir-
men weltweit derzeit mit Hochdruck ar-
beiten, deshalb auch nur zwei, die diesen
traditionellen Ansatz verfolgen. Alle an-
deren Projekte haben eine von drei mo-
derneren Methoden der Impfstoffentwick-
lung gewählt (siehe Grafik).
Bei den sogenannten vektorbasierten
Impfstoffen wird Viruserbmaterial mithilfe
eines anderen Virus in menschliche Zellen
eingeschleust. Münchner Wissenschaftler
beispielsweise wollen einen Pocken-Impf-
stoff als Transportvehikel für Erbmaterial
des neuartigen Coronavirus nutzen – eine
Methode, die bereits gegen das verwandte
Mers-Virus in einer kleineren Studie getes-
tet wurde.
Die neue Vakzine soll ab Ende des Jah-
res an 30 Probanden in einer ersten Studie
im Hamburger Universitätsklinikum Ep-
pendorf (UKE) erprobt werden. »Vektor-
Impfstoffe rufen oft robuste Immunant-
worten hervor«, gibt sich Marylyn Addo
optimistisch, Leiterin der Sektion Infek-
tiologie am UKE.
Forscher des Deutschen Zentrums für
Infektionsforschung wollen den Masern-
Impfstoff als Corona-Vehikel nutzen, Wis-
senschaftler der University of Hong Kong
eine abgeschwächte Version des Influen-
zavirus und Janssen Vaccines, eine Toch-
terfirma des US-amerikanischen Pharma-
riesen Johnson & Johnson, ein Erkältungs-
virus.
»Die gleiche Art von Ausgangspunkt
haben wir schon benutzt, etwa in unserem

100 DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020


Coronakrise

30 473 rettende Zeichen


MedizinIn Rekordzeit arbeiten Mikrobiologen an potenziellen Impfstoffen gegen das neuartige


Virus. Erste Versuche an Menschen haben bereits begonnen. Um die
Entwicklung zu beschleunigen, gehen die Forscher Risiken ein, die bislang undenkbar waren.
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