Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
das Rechthaben – zum Beispiel bei »Anne
Will«, wo er beklagte, man habe »wahn-
sinnig viel Zeit verschlafen«. Ein un -
erkannt infiziertes Kind, so rechnete er
vor, könne binnen acht Wochen – direkt
und indirekt – insgesamt 3000 Menschen
anstecken. Das Virus sei da berechenbar
wie ein »Uhrwerk«.
In der Fachwelt kam Kekulé damit nicht
gut an. Sein Hamburger Kollege Jonas
Schmidt-Chanasit nannte in der »Welt«
diese Rechnung »unsinnig«. Niemand kön-
ne sagen, wie ein Virus sich tatsächlich
verbreite.
Der Berliner Virologe Drosten hat, an-
ders als Kekulé, an der Politik wenig aus-
zusetzen – man liege noch immer recht
gut in der Zeit. Inzwischen hält aber auch
er es für nötig, das öffentliche Leben weit-
gehend herunterzufahren – und die meis-
ten Experten sehen das ähnlich. Irren kön-
nen sie natürlich nach wie vor. In einer
Situation, die sich täglich ändert und wenig
Zeit zum Bedenken lässt, lauert stets die
Gefahr, dass auch Fachleute sich von der
Dynamik fortreißen lassen. Ihre Einschät-
zungen bekommen schnell den Anschein
des Zwingenden – aber stimmen sie auch?
Die Berliner Virologin Karin Mölling,
76, ist da skeptisch. Die emeritierte Pro-
fessorin gilt als Kapazität in ihrem Fach,
und sie hat einen ganz anderen Blick
auf die Corona-Pandemie. Mölling findet
die Abwehrstrategie »unverhältnismäßig
streng«. Besonders bedenklich erscheint
ihr das Schließen der Schulen und Tages-
stätten. »Die Kinder wären dort, wo man
sie kontrollieren kann, viel besser aufge-
hoben«, sagt die Forscherin. »Jetzt werden
sie zwischen den Familien herumgescho-
ben, das ergibt doch keinen Sinn.«
Mölling fände es angemessen, alte und
anfällige Menschen zu ihrem Schutz zu
isolieren. Dass aber die Mehrheit der Be-
völkerung, die kaum schwere Symptome
zu befürchten hat, mit drakonischen Maß-
nahmen traktiert wird, hält sie für über -
zogen. »Am Ende wird man uns auch noch
das Reden verbieten«, spöttelt sie, »um
eine mögliche Tröpfcheninfektion zu ver-
hindern.« Die Forscherin rät für solche Fäl-
le, einfach einen Schal vor Mund und Nase
zu ziehen, bevor man zum Beispiel einen
Laden betritt. »Schon allein damit«, sagt
sie, »können wir uns selbst und die ande-
ren ein wenig schützen.«
Auch der Virologe Drosten kann der
Idee des Mundschutzes für die Allgemein-
heit etwas abgewinnen. Wenn wir alle ei-
nen trügen, sagte er in seinem Podcast,
würden wir das Virus nicht mehr so leicht
durch feuchte Aussprache verbreiten –
man könne sich so ein Stück Mundschutz
ja auch selbst nähen, und gern »aus einem
bunten Stoff«, das wäre vielleicht sogar
»ganz schick«. Manfred Dworschak

DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020 105


»Wir erleben eine Naturkatastrophe in Zeitlupe.«


Christian Drosten, Virologe an der Berliner Charité und Regierungsberater


AXEL SCHMIDT / REUTERS

»Die drakonischen


Maßnahmen


sind überzogen.«


Karin Mölling, Expertin für Viren


»Wir haben


wahnsinnig viel Zeit


verschlafen.«


Alexander Kekulé, Mikrobiologe

HARTMUT MÜLLER-STAUFFENBERG / ACTION PRESS

BETTINA FLITNER / LAIF
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