Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
Feierabendverkehr schlicht nicht umsetz-
bar: Auf manchen Bahnsteigen herrscht
nach wie vor ein Gedränge, das früher ner-
vig war, nunmehr aber gefährlich ist.
In China haben viele Verkehrsbetriebe
weitreichende Konsequenzen gezogen,
um die soziale Distanzierung durchzu -
setzen. In den Bussen der Millionenstadt
Shenzhen beispielsweise darf nur noch
jeder zweite Sitzplatz genutzt werden.
Markierungen auf dem Boden zeigen den
Passagieren, wo sie unter Beachtung der
Mindestabstände stehen dürfen. Und mit
Kameras wird das Verhalten der Leute
kontrolliert.
Busse und Bahnen werden in China mit
hohem Aufwand desinfiziert, in Shenzhen
angeblich sogar alle zwei Stunden. Große
Putztrupps in Schutzanzügen marschieren
mit den härtesten Reinigungsmitteln durch
die Fahrzeuge. Hongkong setzt neuerdings
Roboter ein, um den ÖPNV von Viren
zu befreien. Shanghai sterilisiert täglich
250 Linienbusse mithilfe von UV-Lampen.
Einmal am Tag desinfiziert Dubai nun all
seine Busse, Bahnen und Taxis. Und in
New York City werden die Wagen der
Subway jetzt alle 72 Stunden einer antivi-
ralen Tiefenreinigung unterzogen. Zusätz-
lich stellen viele Betriebe ihren Fahrgästen
Möglichkeiten zur Handdesinfektion zur
Verfügung.
In Deutschlands Verkehrsbetrieben hin-
gegen herrscht nach wie vor eine gewisse
Lässigkeit. Die Verantwortlichen hierzu-

Mitarbeiter beim Reinigen
einer U-Bahn in Istanbul

E


s ist Woche zwei, seit die Corona-Epi-
demie zur Pandemie erklärt wurde.
In den meisten Regionen Deutsch -
lands sind die Kneipen zu, Kitas und
Schulen auch, Fitnessstudios, Theater und
Bordelle ebenso. Ein neues Gebot zur Ab-
wehr von Covid-19 prägt das soziale Leben:
Wenn die Menschen schon nicht daheim-
bleiben, dann sollen sie wenigstens von -
einander Abstand halten, mindestens einen,
besser zwei Meter.
Wer diese Regel wirklich einhalten will,
der darf jetzt allerdings kaum einen Bus
oder eine U- und S-Bahn, weder Eisen-
bahn noch eine Fähre betreten. Im öffent-
lichen Personennahverkehr (ÖPNV) kom-
men Menschen einander zwangsläufig so
nahe wie sonst nirgendwo im öffentlichen
Raum. Manche niesen, andere husten, alle
atmen die gleiche Luft und fassen immerzu
Fahrkartenautomaten, Haltegriffe, Stangen,
Türöffner und Sitze an.
Was also soll geschehen mit Bussen und
Bahnen? Sie sind systemrelevant, denn sie
bringen vor allem in den Städten die Men-
schen zur Arbeit, auf die es jetzt in der
Krise ankommt: Supermarktangestellte,
Mitarbeiter von Arztpraxen und Apothe-
ken, Reinigungspersonal, Menschen, die
sicherstellen, dass Strom und Wasser flie-
ßen, dass Feuerwehren, Polizeistationen,
Müllabfuhren und die Krankenhäuser
funktionieren. So unverzichtbar Busse und
Bahnen sind – sie stehen unter dringen-
dem Verdacht, die Ausbreitung des neu -
artigen Coronavirus zu befördern.
Britische Forscher haben nachgewiesen,
was Londoner ohnehin immer schon ver-
muteten: Ihre U-Bahn – eng, schlecht be-
lüftet, chronisch überfüllt – ist ein Krank-
macher. Wer in Großstädten viel per Bus
und Bahn unterwegs ist, der handelt sich
im Winter ein fast sechsfach höheres Risi-
ko ein, sich mit Erregern von akuten Atem -
wegserkrankungen anzustecken.
Die Gefahr einer Infektion steigt ins -
besondere mit der Länge der Fahrstrecke,
der Zahl der Umsteigestationen – und der
Tageszeit: Zur Rushhour schnellt nicht
nur die Zahl der Passagiere in die Höhe,
sondern auch die der übertragbaren Mikro -
organismen.
Als erste Millionenmetropole der west-
lichen Welt hat London daher diese Woche
Teile des U-Bahn-Systems auf unbestimmte
Zeit geschlossen. Die Behörden appellieren
an die Bevölkerung, alle nicht unbedingt


notwendigen Fahrten im ÖPNV zu unter-
lassen.
Weltweit berichten Verkehrsbetriebe
von einem Einbruch der Nachfrage, vieler -
orts gelten nunmehr Ferien- oder Sams-
tagsfahrpläne. Das Angebot ist reduziert,
aber größtenteils funktioniert es noch. Die
Unternehmen erwarten allerdings steigende
Krankenstände und Abwesenheiten ihrer
Mitarbeiter, weil diese sich daheim um ihre
Kinder kümmern müssen.
Die Krise erfordert ungewohnte Maß-
nahmen, manches wirkt improvisiert, ist
aber festgeschrieben in Pandemieplänen,
die schon vor Jahren von internationalen
Gesundheitsexperten und Krisenstäben
erarbeitet worden sind. In den Bussen sind
nun die Sitze direkt hinter den Fahrern
gesperrt; so soll eine ausreichende soziale
Distanzierung zu den Fahrgästen sicher-
gestellt werden. Aus demselben Grund
verkaufen die Busfahrer auch keine Fahr-
karten mehr. Die vordere Tür ist dauerhaft
zu, nur hinten dürfen Passagiere zu- und
aussteigen.
In vielen Städten öffnen jetzt Bus- und
U-Bahn-Türen an den Haltestellen auto-
matisch, kein Passagier muss mehr auf den
mikrobiologisch bedenklichen Türöffner
drücken, die wohl am meisten befingerte
Fläche jedes Fahrzeugs.
Werden diese Vorsichtsmaßnahmen rei-
chen? Wohl kaum. Wie sehr der ÖPNV
zur Verbreitung von Covid-19 beiträgt, ist
jetzt vor allem eine Frage der Disziplin sei-
ner Nutzer. In München waren die S-Bah-
nen selbst in dieser Woche teilweise noch
brechend voll zu den Stoßzeiten.
Die Ermahnung, Abstand zu halten, ist
längst nicht bei allen Passagieren angekom-
men. Für andere war sie im drangvollen

106


13,8%


der Erwerbstätigen nutzen
den öffentlichen Nah-
verkehr oder die Eisenbahn
für den Weg zur Arbeit.
Quelle: Destatis, 2016, Basis: Befragung zum
Pendlerverhalten

Coronakrise

In der Risikozone


HygieneBusse und Bahnen tragen zur Verbreitung von Viren bei.
Während asiatische Länder auf penible Desinfektion
setzen, halten deutsche Verkehrsbetriebe das für sinnlos.

DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020
Free download pdf