Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
109

Literatur
Luft und Wunder

 Es bleibt da immer ein ma -
gischer Rest bei der wirklich
großen, besonderen Literatur.
Der scheinbar leere Raum zwi-
schen den Wörtern, in dem sich
die Geister die Zeit vertreiben.
Hier ist die Magie der Literatur

zu Hause. Judith Hermann ist
eine der wenigen deutschen
Autorinnen, die über diesen
Geisterraum souverän und
traumtänzerisch verfügen. Das
beweist auch ihr Text in dem
von Hauke Hückstädt heraus-
gegebenen Sammelband mit
Erzählungen in leicht verständ-
licher Sprache (»Lies! Das

Buch. Literatur in Einfacher
Sprache«. Piper; 18 Euro). Das
Projekt ist sympathisch, aber
den Texten des Bandes fehlt
jede literarische Qualität. Nicht
so bei Judith Hermanns Text.
Er heißt »Falle«, sie hat darin
ihre Lakonie verdoppelt. Eine
einsame Frau arbeitet in einer
Zigarettenfabrik. Sie weigert

sich, mittags Mahlzeit zu sagen
wie alle anderen, und jeden
Abend geht sie zu einer Tank-
stelle, um sich ein Eis zu kaufen.
Bis sie einer anspricht, Zau -
berer von Beruf. Er sucht eine
Frau, die er halbieren kann
auf einem Kreuzfahrtschiff auf
hoher See. Wahrscheinlich
fährt sie mit.VW

DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020

Kultur


 Hilma af Klint hat nicht nur gemalt, sondern auch gewissen-
haft geschrieben. Selbst über die Notizen und Tagebucheinträge,
die sie wieder zerstörte, führte sie genau Buch. Daher weiß man
auch, was es alles nicht mehr gibt. Was sie hingegen aufbewahrt
wissen wollte, schrieb sie ins Reine. Übrig blieben 26 000 Seiten
Text und 1300 Gemälde. Das ist die Ausgangslage. Die Kunst -
kritikerin, Kunsthistorikerin und ehemalige »FAZ«-Redakteurin
Julia Voss, 46, hat daraus nun eine Biografie gemacht, und weil
diese so enthusiastisch und voller Hingabe geschrieben ist, muss
man eigentlich von einem Denkmal sprechen. »Hilma af Klint.
›Die Menschheit in Erstaunen versetzen‹« (S. Fischer) heißt die

knapp 600 Seiten lange Biografie über die schwedische Künst -
lerin (1862 bis 1944), die lange vergessen war und seit einigen
Jahren wiederentdeckt wird. Völlig zu Recht war das Werk für
den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. In dem empfeh-
lenswerten kleinen Buch »Hinter weißen Wänden« hatte Voss
bereits vor einigen Jahren dargelegt, dass eine moderne Kunst-
kritik nie allein das Kunstwerk betrachten sollte, sondern immer
auch die sozialen und ökonomischen Umstände, in denen es ent-
standen ist. Und Kunst von Frauen wurde eben meist als wertlos
erachtet. Insofern schreibt Voss mit ihrer Biografie eine Korrek-
tur der Kunstgeschichte. Nun erfährt man, dass keineswegs Kasi-
mir Malewitsch und Wassily Kandinsky die abstrakte Malerei
erfunden haben, wie bis heute gern behauptet wird, sondern
dass af Klint bereits 1906 und damit deutlich vor ihren männlichen
Kollegen ungegenständlich arbeitete. Folglich ist es auch die
eigene Ignoranz, die einem beim Lesen dieser Biografie immer
wieder gespiegelt wird. XVC

COURTESY OF STIFTELSEN HILMA AF KLINTS VERK / AKG-IMAGES COURTESY OF STIFTELSEN HILMA AF KLINTS VERK / AKG-IMAGES
Af-Klint-Gemälde, um 1915


Die Erste


SachbücherWiederentdeckung einer Malerin

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