Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

E


s ist das flämische Bürgertum, das
sich an diesem Januarabend in
der Lotto-Arena am Stadtrand von
Antwerpen eingefunden hat. Dort,
wo Antwerpen, Stadt der Renaissance und
des Humanismus, nicht mehr nach Renais-
sance aussieht, sondern eher wie ein räu-
diges Industriequartier mit Autobahnen
auf mächtigen Betonstelzen und runter -
gerockten Eckkneipen.
Die Leute, mehr als 5000, junge, alte,
durchaus multikulturell und gut aussehend
in ihren scharf geschnittenen Anzügen und
eleganten Kleidern, haben viel Geld aus-
gegeben, um Yuval Noah Harari zu sehen.
Ein Platz vorn in den ersten Reihen?
175 Euro. Die VIP-Variante mit Cham -
pagner und vegetarischem Flying Food,
rotem Teppich und Get-together nach dem
Auftritt? 375 Euro. Wobei Get-together
und 375 Euro nicht bedeuten, dass man
später Harari hinter der Bühne treffen, ein
paar nette Worte wechseln darf, sich viel-
leicht ein Buch von ihm signieren lässt. Mit
fremden Menschen zu plaudern, das ist
nicht so Hararis Ding.
Seitdem sich seine Bücher mehr als
20 Millionen Mal verkauft haben und er
überall auf der Welt große Hallen füllt,
steht Harari, Professor für Geschichte an
der Hebräischen Universität in Jerusalem,
im Ruf, einer der großen Denker der Ge-
genwart zu sein. Big History nennt sich
das, was er betreibt: die Geschichte der
Menschheit, die Zeitläufte in größten Bö-
gen zu erzählen. Je komplizierter sich das
Jetzt anfühlt, je größer die Sorgen und
Zweifel und Verunsicherungen, umso grö-
ßer der Wunsch nach Erklärung: Was zum
Teufel ist eigentlich los?
Drei Bücher hat Harari bislang ver -
öffentlicht. In »Eine kurze Geschichte der
Menschheit« erzählt er, wie in 70 000 Jah-
ren der Mensch das wurde, was er heute
ist. In »Homo Deus« entwirft er das
dystopische Bild einer zukünftigen Maschi-
nenmenschheit. Und in »21 Lektionen für


das 21. Jahrhundert« beschäftigt er sich
mit Fragen der Gegenwart, mit Nationa-
lismus und Populismus, mit Krieg und
Gott, mit Gerechtigkeit und Postfakti-
schem, mit künstlicher Intelligenz und
digitaler Disruption. Auf Deutsch sind das
insgesamt fast 1600 Seiten Weltwissen,
Anleitung und Mahnung für die sich sor-
genden, aber durchaus wohlmeinenden
Bürger der westlichen Welt.
Barack Obama nennt Harari eine Quel-
le der Inspiration. Mark Zuckerberg lädt
ihn ins Silicon Valley ein. Bill Gates hat
ein Buch für die »New York Times« be-
sprochen, Angela Merkel und Emmanuel
Macron empfingen ihn zum Austausch. Se-
bastian Kurz plauderte öffentlich mit ihm
über Liberalismus, Christine Lagarde be-
fragte ihn über die Zukunft. Er reiste nach
San Francisco und Washington, Brasilien
und China, Kiew und Bukarest, Berlin und
Mailand, Davos und Mumbai. Für Politi-
ker, Unternehmer und Leser ist er Lehrer
und Orakel, Seelsorger und Lebenshilfe-
coach, Scifi-Storyteller und Dystopiker
einer unbeherrschbar erscheinenden digi-
talen Zukunft. Es gibt viele, die glauben,
dass Yuval Noah Harari tatsächlich eine
Idee davon habe, was wirklich los ist. Ha-
rari, der große Erklärer.
Nach Antwerpen hat ihn das auf Flä-
misch erscheinende Nachrichtenmagazin
»Newsweek« eingeladen, eine Lizenzaus-
gabe des amerikanischen Originals. Bis-
lang sind erst ein paar Hefte erschienen,
die verkaufte Auflage liegt bei 30 000, Ha-
rari könnte helfen, dass es mehr werden.
Harari könnte überhaupt helfen. Ant-
werpen, die Stadt des Handels, der Mode
und der Diamanten, der Stolz Flanderns,
Hort der Freiheit und des Humanismus,
scheint eines dieser Versuchslabors eines
verunsicherten Europa zu sein. Seit den
Wahlen im vergangenen Mai wartet das
Land auf eine neue Regierung. Wallonen
und Flamen finden längst nicht mehr zu-
sammen, man streitet um Migration und

Populismus. Es gibt viele Anlässe, sich Sor-
gen zu machen. Das Coronavirus, das alles
verändert, scheint an diesem Abend noch
ganz weit weg zu sein.
In den ersten Reihen sitzt die Elite der
flämischen Politik, Damen und Herren, die
sich selbst nach Feierabend wohl nicht mal
auf die Uhrzeit einigen könnten. Auch
Bart De Wever ist gekommen, der Bürger-
meister von Antwerpen und so etwas wie
das Teufelchen der belgischen Politik. Er
ist Vorsitzender der flämischen National-
konservativen Partei und legt zwar Wert
darauf, ein moderner Konservativer zu
sein, gesellschaftspolitisch durchaus liberal,
man kennt das, aber seine Ablehnung des
Uno-Migrationspakts vor mehr als einem
Jahr läutete das Ende der bisher letzten

110 DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020


Kultur

Yuval und die


Neandertaler


DenkerDer israelische Historiker Yuval Noah Harari


hat in den vergangenen Jahren 20 Millionen
Bücher verkauft. In aufgeregten Zeiten ist er für die westliche

Welt der große Erklärer und Mahner geworden:
Was zum Teufel ist eigentlich los? Von Lothar Gorris
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