Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

würde er eines schreiben. Wenn nicht, kön-
ne er hoffentlich schweigen.
Zu dem Promotag in Amsterdam ist
Harari aus Davos angereist, wo er neben
Greta Thunberg, Angela Merkel und
Donald Trump einer der Stargäste des
Weltwirtschaftsforums war. Greta, Merkel,
Trump, das ist so ungefähr die Preisklasse.
»Wie wir das 21. Jahrhundert überle-
ben«, so hieß in Davos das Thema von
Hararis Vortrag. Die Botschaft lässt sich
leicht zusammenfassen: Kein Job werde
sicher sein vor der Automatisierung unse-
rer Arbeitswelt. Unsere persönlichen Ent-
scheidungen werden von Algorithmen
übernommen. Wohlstand und Macht ver-
einten sich zunehmend in den Händen
einiger weniger.
Die politischen Systeme dürften das
nicht überleben. Es werde eine Welt des
Datenkolonialismus und der digitalen Dik-
taturen entstehen, eine Welt des digitalen
Wettrüstens zwischen den USA und China.
Eine Welt, in der die Ausgebeuteten des



  1. Jahrhunderts froh wären, wenn sie
    noch ausgebeutet würden, weil sie bald
    völlig nutzlos sein werden. Eine Welt, in
    der die Ideologien des 20. Jahrhunderts,
    egal ob Sozialismus, Nationalismus oder
    Liberalismus, keine Antworten geben auf
    die Herausforderungen der künstlichen
    Intelligenz, der Biotechnologie und des
    Klimawandels. Sie hätten, sagt Harari, nur
    ein paar nostalgische Ideen.
    Als Harari noch in England studierte,
    auf der Suche war nach sich selbst, und
    auch die Wissenschaft von der Geschichte
    keine Antworten bot bei seiner Suche
    nach Sinn und Wahrheit, empfahl ihm ein
    Freund den Besuch eines Meditationskur-
    ses. Heute meditiert er täglich zwei Stun-
    den lang. Am Ende eines Jahres zieht er


sich für ein oder zwei Monate zurück,
meistens in ein Meditationszentrum in
der Nähe von Mumbai in Indien. Schwei-
gen und atmen, sonst nichts. Das ist mög-
licherweise eine ganz gute Idee, um nicht
durchzudrehen, wenn dystopische Ge -
danken einem den Kopf verdrehen. Oder
um Bücher zu schreiben, die die ganze
Welt erklären.
Meditation, schreibt er in einer E-Mail,
trainiere den Geist, die Aufmerksamkeit
auf das zu lenken, was gerade passiere,
und nicht eine Wirklichkeit zu sehen, wie
man sie sich vorstelle oder wie sie Men-
schen in ihren Geschichten erfinden. Me-
ditation erlaube uns, diese Geschichten
zur Seite zu schieben und zumindest für
eine kleine Weile die Realität mit größerer
Klarheit zu erkennen. Nur auf seinen
Atem zu achten und sonst nichts, das sei
einer der wichtigsten Sätze, die er je in
seinem Leben gehört habe. Ohne Medi -
tation hätte er, sagt Harari, niemals seine
Bücher schreiben können.
Detachment, Abstand halten, sich nicht
einlassen. Das ist eines seiner Prinzipien.
Die Lehren aus seinem Buch über die
kurze Geschichte der Menschheit lauten:
Nichts hat einen ewigen Kern. Nichts ist
perfekt. Und: Akzeptiere die Welt so, wie
sie ist. Das klingt fast wie Buddhismus,
auch wenn Harari weder an einen Gott
noch an einen Buddha glaubt.
Die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist,
das entspricht nicht den westlichen Vor-
stellungen eines politisch mündigen Bür-
gers. Als im vergangenen Jahr bekannt
wurde, dass Harari für die russische Über-
setzung seines letzten Buchs kritische Pas-
sagen über Putin ausgetauscht hatte, auf
Wunsch seines Verlegers in Russland, er-
lebte er den ersten großen Shitstorm seiner

Karriere. Es sei ein Dilemma, sagt er heute,
aber dennoch die richtige Entscheidung
gewesen. Besser das Buch erscheine leicht
verändert als gar nicht. Denn genau das
sei es, was das Regime in Russland am
liebsten wollte.
Alles eine Frage der Perspektive. Die
Politik, die Geschichte, das Leben, die Sor-
gen seines Publikums in Antwerpen und
auch sonst überall in der Welt.

Schon bei unserem Treffen in Amster-
dam Ende Januar sprach Harari über die
Corona-Epidemie. Die ganz große Bedro-
hung durch die Pandemie schien da noch
weit weg zu sein. In einer Zukunft der
künstlichen Intelligenz, so Harari, in der
alle biometrischen und sozialen Daten der
Menschen erfasst würden, in einer Welt
der totalen Überwachung, wie sich die KP
in China sie wünscht, hätte der Ausbruch
der Corona-Epidemie verhindert werden
können.
Medizinischer Fortschritt sei, so Hara-
ri, eine der großen Versprechungen der
künstlichen Intelligenz. Wie die Menschen
sich entscheiden würden, wenn man sie
fragte: Privatheit oder Corona? Natürlich
würde, sagt Harari, die Gesundheit ge -
winnen.
Ein paar Wochen später ist Harari
längst im Historikermodus, gibt in nur
wenigen Tagen Interviews auf CNN und
BBC, schreibt einen Text für das ameri-
kanische »Time Magazine«. Die Pest im


  1. Jahrhundert, die Pocken im 16. Jahr-
    hundert, die Spanische Grippe 1918, sie
    hätten Millionen Menschen das Leben
    gekostet. Im ausgehenden Mittelalter
    wusste man nichts von Bakterien oder
    Viren. Eine Strafe Gottes vielleicht? Aber
    das 20. Jahrhundert habe gezeigt: Seu-
    chen, Pandemien, seien seltener gewor-
    den, die Zahl der Opfer geringer. Die
    Menschheit habe große Fortschritte ge-
    macht. Eine Krankheit wie die Pocken,
    die auch noch nach dem Zweiten Welt-
    krieg gewütet habe, sei in den Siebziger-
    jahren besiegt worden – durch eine ge-
    meinsame globale Anstrengung.
    Nun dauerhaft Grenzen zu schließen,
    den Rückzug anzutreten in eine kleine
    mittelalterliche Welt, davon habe sich
    auch die Pest nicht aufhalten lassen. Auf
    Dauer helfe nur der freie Austausch wis-
    senschaftlicher Erkenntnisse und globale
    Solidarität, die auf Vertrauen und Koope-
    ration be ruhe. Mit Xenophobie, Isolatio-
    nismus und gegenseitigem Misstrauen
    werde das Virus nicht zu besiegen sein.
    Eine Frage der Perspektive. Das Virus
    verändert alles. Sogar Belgien bekommt
    eine neue Regierung. 15 Monate nach
    dem Ende der letzten. Corona sei Dank.
    Auch Bart De Wever, der Neandertaler,
    macht mit.


114 DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020


MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL
Gastredner Harari (5. v. l.) mit Ehemann Yahav (4. v. l.) in Antwerpen:»Er ist das PR-Genie«
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