Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

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anchmal sind es die Stürme der Weltgeschich-
te, die toben. Manchmal ist es ein ganz kon-
kretes Unwetter. Und manchmal kommt bei-
des zusammen. So geschah es kürzlich auf
einer Bahnstrecke in der brandenburgischen Provinz.
Vom Wind wurde ein Baum umgerissen, er stürzte auf die
Gleise. Der Zugführer des von Hamburg nach Berlin
rasenden ICE konnte gerade noch bremsen, und der Zug
kam zum Stehen. Doch die Reisenden steckten fest.
Über Stunden. Und irgendwann brach eine junge Frau im
Großraumabteil in Tränen aus.
Sie hatte ihren Reisepass in Dresden liegen lassen.
Jetzt war sie auf dem Weg dorthin, um den Pass zu
holen. Per Handy buchte sie den vielleicht letzten, für sie
noch erreichbaren Flug nach Australien. Von Prag aus.
Aber auch die deutsch-tschechische Grenze sollte angeb-
lich demnächst schließen. Alles extrem knapp. Und der
Zug stand immer noch. Sie saß fest und musste fürchten,
so schnell nicht nach Hause zu kommen.
Eine junge Britin, die in Australien arbeitet. Die
für einen Geschäftstermin 14 000 Kilometer nach
Westdeutschland reist. Die ihren Ausweis in Ostdeutsch-
land vergisst, die nach Tschechien
weitermöchte. Und die schließlich in
Panik gerät, weil ein aus China
kommendes Virus umgeht. Gren -
zenlosigkeit ist der Inbegriff
der Globalisierung. Jetzt aber
ist die Freizügigkeit, die ein
Leben wie das der Britin möglich
macht, in Gefahr. Und mit ihr
die liberale Gesellschaft, mit der
diese Freizügigkeit einhergeht.
Das liegt nicht allein daran, dass die Länder ihre
Grenzen schließen und Ausgangsverbote verhängen, dass
staatliche Allmacht ihre Wiederkehr erlebt. Sondern
dass wir in Zeiten leben, in denen Grenzen wieder das
Denken bestimmen. In Zeiten des Mauerbaus.
Auf der Reise von Hamburg nach Berlin passiert der
ICE Orte, an denen die Grenzen gefallen waren: den
früheren Todesstreifen zwischen West- und Ostdeutsch-
land. Die Stelle, wo in Berlin die Mauer stand. Auf der
Weiterreise von Dresden nach Prag geht die Fahrt in eine
Stadt, in der die Dissidenten des Ostblocks früher ange-
fangen haben als in anderen Ländern, die engen Grenzen
des Sozialismus zu überwinden. In die Stadt von Václav

Havel. Vordenker wie er hatten es möglich gemacht, dass
US-Präsident George Bush 1990 die »Neue Weltordnung«
ausrufen konnte.
Diese Neue Weltordnung löste das Zeitalter des
Kalten Kriegs, das Zeitalter der Grenzen und Mauern ab.
Es begann das Zeitalter der großen Entgrenzung, der
Deregulierung, der Beschleunigung. Das Zeitalter der
Liberalisierung. Der liberale Zeitgeist hat die vergange-
nen 30 Jahre geprägt, in der Politik, in der Wirtschaft, im
Privaten. Ob sich die Mächtigen oder die Intellektuellen
nun Wirtschaftsliberale nannten oder Neoliberale, ob sie,
eher linksliberal, den Sozialdemokraten zuneigten oder
den Grünen, ob sie sich, eher rechtsliberal, Christdemo-
kraten nannten – liberal gesinnt waren sie fast alle.
Der liberale Zeitgeist hat im Großen den Aufstieg Chi-
nas zur Welthandelsmacht ermöglicht. Das Schengener
Abkommen. Aber auch einen schwarzen US-Präsidenten,
eine Bundeskanzlerin. Oder die Ehe für alle. Der liberale
Zeitgeist hat im Kleinen dafür gesorgt, dass es normal war,
mit dem Zug ohne Passkontrollen von Hamburg nach Prag
zu fahren. Und von dort nach Australien weiterzufliegen.
Wenn da nicht ein Baum umstürzt. Oder ein Virus
umgeht. Und die Grenzen, die so lange selbstverständlich
geöffnet waren, geschlossen werden. Und dann eine
Ahnung aufkommt: dass dieses Lebensmodell keinesfalls
selbstverständlich ist.
Diese Ahnung hat nicht allein mit Corona zu tun. Denn
obwohl es immer Menschen sind, die Geschichte machen
und keine höheren Mächte, kommt es vor, dass der Wind
sich dreht, dass die Stürme der Weltgeschichte wieder auf-
ziehen. Dass eine Epoche endet. Wendejahre wie 1989
sind selten. Wie an einer Perlenkette aber lassen sich die-
jenigen Jahre aufreihen, die ihnen vorausgehen, in denen
ein Prozess langsam in Gang kommt.
In unserer Zeit sind das 2001, der Terror des Islamis-
mus. 2008, die Finanzkrise, ein Zeichen dafür, dass der
wirtschaftliche Liberalismus eingehegt werden muss.
2015, ein letzter bedeutender Akt liberal geprägter Poli-
tik, als einige Länder Europas die Grenzen nicht schlos-
sen und damit auch denjenigen Freizügigkeit ermöglich-
ten, die sie am allernötigsten hatten: den Kriegsflücht -
lingen. Seitdem haben sich die Ereignisse beschleunigt.
Die Lage spitzt sich zu: der weitere Vormarsch der Rechts-
populisten. Pegida und AfD. Trump. Der Brexit. Alles
Anzeichen für Krisen der Weltordnung, ökonomisch,
ideologisch, lebensweltlich. Indizien dafür, dass die
Gruppe derjenigen wächst, die sich von der großen Mitte
ausgeschlossen fühlen oder sie radikal ablehnen.

D


ie historischen Einschnitte, denen die Weltgesell-
schaft jetzt in der Coronakrise ausgesetzt ist,
sprechen dafür, dass auch das Jahr 2020 in diese
Reihe historischer Jahre gehört, an deren
Ende ein großer Wendepunkt steht, ein Kontrapunkt zum
Mauerfall. Vielleicht ist das Virus der entscheidende
Schlag für unsere Ordnung, vielleicht werden weitere fol-
gen, vielleicht wird das System auch nur wanken, sich
dann aber erst mal wieder stabilisieren. Das ist momen-
tan nicht abzusehen.
Eines jedoch ist sicher: Die Grenzschließungen sind
temporär, sie betreffen nur einen Teil unserer Freiheiten.
Wie sollte es anders sein, wenn eine christdemokratische
Regierung nicht nur das Geschäftsleben stilllegt – sondern
auch die Kirchen schließt. Die eigentlichen Grenzen sind
erst einmal unsichtbar, sie entstehen im Kopf. Die Feinde

Sebastian Hammelehle


Zeiten des


Mauerbaus


Essay2020 könnte ein historischer Wendepunkt sein.


Nicht allein wegen Corona, sondern weil die Ära


liberalen Denkens endet – und sich Social Distancing


auch intellektuell durchsetzt.


Es kommt die


Ahnung auf, dass un-


ser Lebensmodell


nicht selbstverständ-


lich sein könnte.


DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020
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