Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
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der offenen Gesellschaft kommen nicht allein von außen.
Das Geschäft der Rechten war es immer, Grenzen zu zie-
hen. Allzu oft sind es aber mittlerweile die Liberalen
selbst, die dem Illiberalismus anheimfallen. Die Intellektu-
ellen, die Künstler. Das kulturelle Milieu ist ein Vor -
denkermilieu. Hier entstehen viele Ideen, Leitlinien für
das, was später in der Politik umgesetzt wird.
Doch dieses Milieu ist in den vergangenen Jahren
selbst zunehmend illiberal geworden. Es ist auf Distanz
gegangen zu Andersdenkenden – und hat damit schon
vor der Zeit eine Kulturtechnik praktiziert, die sich erst
jetzt, in der Coronakrise, mit einem Begriff verbindet:
Social Distancing.
Das Abstandhalten, das damit eigentlich gemeint ist,
dient der Seuchenabwehr. Versteht man Social Distancing
aber als intellektuellen Akt, steht er für den Rückzug in
die Wagenburg der Gleichgesinnten. Diejenigen, die an -
ders denken als man selbst, müssen draußen bleiben, wer-
den stigmatisiert. Als hätten sie das Virus. So wichtig
Social Distancing im Kampf gegen die Pandemie ist: Im
geistigen Leben ist es gefährlich.
Identitätspolitik und politische Korrektheit sind
erdacht worden im Kampf um gleiche Rechte, im Kampf
um Sichtbarkeit für die Marginalisierten. Doch wenn die
gedankliche Offenheit dadurch abnimmt und die Konfron-
tationen zunehmen, dann ersetzt die Regulierung wieder


die Deregulierung, die Begrenzung die Entgrenzung.
Künstler und Intellektuelle, die dafür sorgen, dass Bilder
abgehängt werden, dass Filme abgesetzt werden, dass
Musiker nicht auftreten, dass Bücher nicht veröffentlicht
werden und Autoren diffamiert, betreiben Social Distan-
cing mit intellektuellen Mitteln. Sie sind Vorkämpfer
des Illiberalismus. Vorboten einer Zeitenwende: den Zei-
ten des Mauerbaus.

D


ie intellektuelle Variante des Social Distancing
schafft neue Grenzen, hindert uns, Menschen
in Vielschichtigkeit wahrzunehmen und Differen-
zen bis zu einem gewissen Punkt zu ertragen.
Nicht nur die Gesellschaft ist divers, auch das Individuum
ist es.
Nur wenn wir das akzeptieren, werden wir die
liberale Ordnung bewahren können, wenn die Stürme
des Weltgeschehens weiter toben. Wenn die Lage
sich verschärft und der Zug zum Stehen kommt. Wenn
wir Reisenden feststecken.
Die junge Britin dürfte es noch nach Hause geschafft
haben. Die australische Regierung hat die Grenzen eine
Woche später geschlossen.
Die Abschottung Tschechiens war ein Gerücht.
Damals. 

Coronakrise

FLORIAN GAERTNER / PHOTOTHEK / IMAGO IMAGES
Grenzübergang nach Tschechien
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