Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020 119


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Eduard Limonow, 77
Das Leben des russischen Schriftstellers ist sein eigentliches
Werk, und dieses Werk ist bunt, grell, voller Leidenschaft
und unglaubwürdiger Wendungen. Geboren 1943 als Eduard
Sawenko in der sowjetischen Provinz, schneiderte er
als junger Lyriker Jeanshosen für die Moskauer Intelligenz,
verkehrte mit Dissidenten. Er emigrierte und lebte ab
1975 in New York, wo er seine sexuelle Energie und seinen
Abscheu gegen den Kapitalismus auslebte – davon zeugt
sein autobiografischer Bestseller »Fuck Off, Amerika«. Über
Frankreich kehrte er zurück in die untergehende Sowjet -
union und stürzte sich in die Politik, als Anhänger links -
nationalistischer Großmachtträume. »National bolschewis -
tische Partei« nannte er die Gruppe, die er zusammen mit
dem Philosophen Alexander Dugin gründete. Er saß zwei
Jahre lang in Haft, rief gemeinsam mit der ihm verhassten
liberalen Opposition zu Protesten auf, bejubelte anderer-
seits die Annexion der Krim. Ein alter Mann mit heiserer
Stimme, blieb Limonow eine Ikone für junge Russen mit
einem Faible für Gewalt und große Gefühle – und für den
Tod. Eduard Limonow starb am 17. März in Moskau.ESC

Vittorio Gregotti, 92
Erst an seinem 90. Geburtstag im August 2017 zog sich der
bekannte Mailänder Architekt in den Ruhestand zurück.
Nicht etwa, weil er sich zu alt fühlte – er fand einfach, die
Menschen interessierten sich nicht mehr für echte Bau-
kunst. Vielen galt Vittorio Gregotti als Mann der Vernunft,
der spektakuläre ästhetische Gesten ablehnte. Gegen Groß-
projekte hatte er allerdings nichts einzuwenden. In Mai-
land baute er mit seinem Team den Stadtteil Bicocca, in
Barcelona erneuerte er 1992 das marode Olympiastadion
aus den Zwanzigerjahren, er baute mehrere Universitäten
und schuf den Masterplan für ein italienisch anmutendes
Viertel in Shanghai. Manche seiner Gebäude, etwa das
Kulturzentrum von Belém in Lissabon und das Opernhaus
in Aix-en-Provence, wirken wie moderne Festungen – und
auf ihre Weise doch eine Spur exzentrisch. Die Nachricht
von seinem Tod scheint seine Landsleute nun besonders
zu berühren. Gregotti und seine Frau hatten sich mit dem
Coronavirus infiziert, kamen ins Krankenhaus. Vittorio
Gregotti starb am 15. März in Mailand. UK

Giwi Margwelaschwili, 92
Wer den Schriftsteller und
Philosophen in seiner
kleinen Wohnung in Tiflis
besuchte, dem fiel als Erstes
sein besonderes Deutsch
auf: Er sprach den Berliner
Dialekt der Dreißigerjahre.
Dort war Giwi Margwela-
schwili aufgewachsen,
als Sohn eines georgischen
Exilanten. Seine Kunst,
dieses unüberschaubare
und bis heute nur in Teilen
ver öffentlichte Werk, be -
stand darin, den traumati-
schen Erfahrungen seiner
Jugend eine Sprache zu
geben – und keine wirkli-
che Geschichte. Er ging in
Wilmersdorf und Charlot-
tenburg zur Schule, wurde
zusammen mit seinem
Vater 1946 in den Ostteil
Berlins gelockt, dort von
den sowjetischen Behörden
verhaftet und in das sowje-
tische Speziallager Nr. 7
gesteckt, das sich auf dem
Gelände des ehemaligen
Konzentrationslagers Sach-
senhausen befand. Sein
Vater wurde nach Georgien
deportiert und ermordet,
Margwelaschwili kam frei
und musste ebenfalls in eine
Heimat zurück, die er nicht
kannte und deren Sprache
er nicht sprach. Er lernte
Georgisch und wurde zu
einem Dichter, der nur für
sich (und auf Deutsch) da -
rüber schrieb, wie es ist, sei-
ne Identität zu verlieren –

und dabei erfand er allein
eine ganz eigene Post -
moderne. In seinen Roma-
nen – vor allem im autobio-
grafischen, mehrbändigen
»Kapitän Wa kusch« – ist
nichts, wie es scheint. Die
Figuren haben oft ein Eigen-
leben und sprechen mit
dem Autor, die Geschichten
handeln davon, dass sie
nur erfunden sind – auch
wenn sie ganz nah an

Margwelaschwilis Leben
entlang erzählt sind. 1993
kehrte er nach Berlin
zurück, lebte einige Jahre
dort, bevor er 2011 wieder
nach Georgien ging. Giwi
Margwelaschwili starb am


  1. März in Tiflis. RAP


Stuart Whitman, 92
Der Hollywoodschauspieler
mit den markanten Brauen
hatte eines jener Kino -
gesichter, die aus härterem
Material als Fleisch und
Blut zu bestehen schienen.
Stuart Whitman bekam

Anfang der Fünfzigerjahre
seine ersten Filmrollen und
stellte oft Männer der Tat
dar. Selbst wenn die Kamera
nur seinen Kopf zeigte,
hatte der Zuschauer das Ge -
fühl, dass er etwas in der
Hand hielt, vorzugsweise
einen Revolver. Er war oft
in Western wie »Stadt der
Verdammten« (1954) und
Kriegsepen wie »Der längste
Tag« (1962) zu sehen. Seine
Szenen mit John Wayne in
»Die Comancheros« (1961)
wirken wie ein Wettstreit,
wer von den beiden männ -
licher ist. Whitman über-
nahm später die Hauptrolle
in der legendären TV-Serie
»Der Marshall von Cimar-
ron« (1967). Dass er auch
ganz andere Charaktere
spielen konnte, innerlich
zerrissene, deren Physis
womöglich über ihre psy-
chischen Probleme hinweg-
täuschte, zeigte er in dem
Sozialdrama »Gebrand-
markt«, in dem er einen ver-
urteilten Missbrauchstäter
spielte – hierfür erhielt er
1962 eine Oscarnominie-
rung. Stuart Whitman starb
am 16. März im kali -
fornischen Montecito. LOB

MIKHAEL GALUSTOV

MARTIN SCHUTT / DPA

MOVIEPIX / GETTY IMAGES
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