Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

12 DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020


mehr zu stemmen«, sagt die Oberärztin
einer Privatklinik aus Bayern.


Die Pflege

Insbesondere in der Pflege sind Deutsch-
lands Kliniken für die Krise nicht gut ge-
rüstet. Bereits ohne Corona seien sie und
ihre Kollegen häufig am Limit, erzählt eine
Krankenpflegerin, 50, die auf der Inten-
sivstation einer niedersächsischen Uni -
klinik arbeitet. Aus Angst vor Repressalien
möchte sie anonym bleiben. »Das System
hat eigentlich keine Puffer mehr, wir haben
oft unsere Belastungsgrenze überschritte.«
Intensivbetten könnten bei ihr im Kran-
kenhaus zum Teil nicht genutzt werden,
weil das Personal dafür fehle, sagt sie. Als
sie vor 25 Jahren auf der Station anfing,
habe eine Pflegekraft ein bis zwei Inten-
sivpatienten zu betreuen gehabt, nun seien
es zwei bis drei. »Wir schreiben Überlas-
tungsanzeigen, die eigentlich Gefährdungs-
anzeigen heißen müssten.« Manchmal
habe sie das Gefühl am Ende der Schicht,
ihre Füße wären »dreimal so dick und je-
mand habe mich verprügelt. Dann krieche
ich förmlich nach Hause«.
Auf die Gesellschaft sieht die Kranken-
pflegerin schwere ethische Konflikte zu-
kommen. »Alle haben sich an das System
der Maximalversorgung gewöhnt, nach
dem jeder alles bekommt, was geht.« Das
lasse sich nicht aufrechterhalten, wenn die
Zahl der kritisch Erkrankten steige wie
befürchtet.
Gesundheitsminister Spahn hat das Pro-
blem zwar erkannt. Per Gesetz verpflich-
tete er die Kliniken 2018 zu einer Mindest-
ausstattung mit Pflegekräften, doch kaum
ist die Regelung in Kraft, muss Spahn sie
wieder aussetzen. Anders wäre die Coro-
nakrise kaum zu bewältigen.
Der Personalmangel in den deutschen
Krankenhäusern ist chronisch. Mindestens
17 000 Pflegestellen sind dort nicht besetzt.
Die Kliniken sind daran nicht unschuldig.
Sie haben in den vergangenen Jahren vor
allem an Pflegekräften gespart. Zugleich
enthielten die Bundesländer den Kliniken
Milliarden Euro vor, die sie eigentlich für
Investitionen in Infrastruktur hätten über-
weisen müssen.
»Bettenabbau und Personalnotstand
sind nicht plötzlich und unerwartet ent-
standen«, sagt Asklepios-Konzernbetriebs-
ratschef Martin Schwärzel. »Die Zahl der
Pflegekräfte wurde in den Kliniken als
wirtschaftliche Kennzahl genommen und
so weit wie möglich gedrückt. Jetzt arbei-
ten alle am Limit.«
Das sieht auch Deutschlands bekanntes-
ter Krankenpfleger, Alexander Jorde, so.
Der heute 23-Jährige erklärte Kanzlerin
Merkel im Wahlkampf 2017 vor laufender
Kamera die katastrophale Situation des
Klinikpersonals. Seither, sagt Jorde, »hat


sich einfach viel zu wenig getan«. Das rä-
che sich nun, in der Krise.
Patienten würden in manchen Kranken-
häusern wegen des Personalmangels schon
heute nicht ausreichend versorgt. Jorde
fordert eine bessere Betreuung für die Kin-
der von Pflegekräften, damit sie nicht auch
noch ausfallen, sowie regelmäßige Tests
für Kollegen, die mit Corona-Patienten in
Kontakt gekommen sind. Das Virus treffe
die Belegschaften in einer Extremsituation.
»Die Pflege in Deutschland ist total über-
lastet«, sagt Jorde.
Die Arbeitsabläufe seien zum Teil chao-
tisch, klagt ein Pflegerkollege. »Da werden
Patienten einfach direkt in die Intensiv -
station geschoben, ohne dass einer mal
schaut, ob sie ansteckend sein könnten.
Bis eine Diagnose da ist, hatten wir alle
längst Kontakt mit ihm – und das ohne
Schutzkleidung.« Die ganze Station sei
dann theoretisch verseucht.

Er wisse von einigen Kollegen, die sich
krankgemeldet hätten, weil sie das nicht
mehr mitmachen wollten. »Es geht dabei
auch um unsere eigene Gesundheit«, sagt
der Pfleger. Das Krankenhaussystem funk-
tioniere nur noch, weil die Angestellten al-
les tun, damit es nicht zusammenklappt.
»Und die Katastrophe geht ja jetzt erst rich-
tig los.«

Fehlender Schutz
Die Angst von Ärzten und Pflegern, sich
anzustecken, ist berechtigt, denn auch bei
der Ausstattung mit Schutzmitteln stehen
Deutschlands Praxen, Gesundheitsämter
und Kliniken schlecht da. In vielen Kran-
kenhäusern fehlen spezielle Schutzkittel,
Mundschutz und Desinfektionsmittel.
Selbst das Nahtmaterial für Operationen
könnte knapp werden.
Das verlangt nach ungewöhnlichen
Maßnahmen. Auf der Intensivstation in
Eschweiler dürfen FFP2-Atemschutzmas-
ken nicht mehr wie bisher weggeschmissen
werden, wenn man sie einmal benutzt hat.
Jeder Mitarbeiter schreibt seinen Namen
auf die Maske, hängt sie zum Trocknen
auf und benutzt sie während der gesamten
Schicht.
Inzwischen herrscht Besuchsverbot im
ganzen Hospital, uniformierte Mitarbeiter
des Eschweiler Ordnungsamts kontrollie-
ren den Zugang, zum Schutz von Patien-
ten und Personal.
Überall in der Republik wurden in den
vergangenen Wochen Atemschutzmasken
und Desinfektionsmittel aus Kliniken ge-
raubt, sogar von Mitarbeitern. Bei Askle-
pios in Hamburg-Barmbek habe eine OP-
Schwester rund hundert Atemschutzmas-
ken gestohlen, heißt es. Mehrere Häuser
berichten, dass Desinfektionsmittel in Pa-
tientenzimmern abgezapft und in leeren
Wasserflaschen davongetragen worden sei.
In manchen Fällen sei stattdessen Wasser
in die Desinfektionsbehälter gefüllt wor-
den, damit niemand den Diebstahl bemer-
ke, berichtet ein Klinikmitarbeiter.
Nachschub zu bekommen sei weiter
schwierig, klagt der Einkaufsleiter des
Eschweiler Krankenhauses, Michael Di-
schinger. Er hat alle Atemschutzmasken
im Haus einsammeln lassen und lagert sie
nun unter Verschluss: 8000 Stück. Das
reicht gerade noch für 14 Tage. Das Hos-
pital hat bei örtlichen Behindertenwerk-
stätten nachgefragt, ob diese Atemschutz-
masken herstellen könnten – doch es fehlt
am notwendigen Ausgangsmaterial. Im-
merhin sind gerade 200 grüne Stoffmas-
ken eingetroffen, die waschbar sind. Bei
einem Hersteller in der Türkei hat Dischin-
ger 45 000 Atemschutzmasken bestellt,
die aber erst in fünf Wochen kommen sol-
len. »Alles gegen Vorkasse, ist eine heiße
Kiste.«

97%


der Intensivpflegekräfte
in Deutschland beklagen
eine Verschlechterung
der Arbeitsbedingungen
in den letzten Jahren.
Quelle: Onlineumfrage von DGIIN und Marburger Bund
vom 14. bis 21. Januar 2019; 2498 Befragte

FELIX VON DER OSTEN / DER SPIEGEL
Krankenschwester mit Covid-19-Test
»Belastungsgrenze überschritten«
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