Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
Lebenskünstler mit langem Atem
Nr. 11/2020Vom Versuch, mit Depressionen
zu leben – ein autobiografischer Bericht

Ein ehrlicher Artikel. Danke! Corona wer-
den wir aufklären und über kurz oder lang
ein Impfmittel kreieren. Bis dahin blüht
die Angst bis hin zur kollektiven Neurose.
Doch Corona wird das Unheimliche ver-
lieren. Meine Depression dagegen bleibt
ein »Ungeheuer« (Terézia Mora) in mir.
Joachim Wehrenbrecht, Herzogenrath (NRW)

Es ist alles da, was von außen betrachtet
nur als ein »gutes und sorgenfreies Leben«
interpretiert werden kann. Trotzdem sind
sie seit Jahren da, die schweren Depressio-
nen, trotz zahlreicher Klinikaufenthalte,
endloser Therapiesitzungen und medika-
mentöser Behandlungen. Und gerade das
ist es, was es für Außenstehende noch
schwieriger macht, die Krankheit und das
Leid zu verstehen. Schwierig auch für
mich, sie als Krankheit anzusehen, ohne
Scham und Schuld- und Versagensgefühle.
Ja, »immer noch krank«, diesen Zustand
mit einer gewissen Art von Gelassenheit
zu betrachten – einhergehend mit dem
Annehmen der Krankheit, ohne jedoch zu
kapitulieren – ist ein guter Weg.
Andrea Lütje, Plön (Schl.-Holst.)

Auf die Aussage, dass ich Depressionen
habe, bekomme ich die sonderbarsten Re-
aktionen. »Ach, ich habe auch manchmal
einen Durchhänger.« Oder von Menschen,
die meinen, etwas mehr darüber zu wissen:
»Das kann doch gar nicht sein, du führst
doch ein ganz normales Leben.« Es gibt
inzwischen viele Berichte von Depressiven
und auch gute Ratgeber. Trotzdem wissen
die meisten Menschen nicht wirklich, was
Depressionen sind. Für Betroffene, die
meistens stigmatisiert werden, ist das ver-
heerend. Menschen, die ein »normales«,
einigermaßen erträgliches oder sogar zu-
friedenstellendes Leben mit Depressionen
leben können, sind meistens Lebenskünst-
ler und haben einen langen Atem.
Gudula Madsen, Berlin

ihre Quote für die Aufnahme von Flücht-
lingen erfüllen – ein Armutszeugnis. Man
will keine Flüchtlinge mehr, auch in
Deutschland nicht. Ist es Angst, dass mehr
Bürger nach rechts abdriften? Dass die La -
ge der Zigtausenden Flüchtlinge jetzt so
eskaliert, dafür trägt die Europäische Uni-
on Mitverantwortung. Griechenland muss
unterstützt werden, und zwar schnell –
und es muss eine gerechte Asylpolitik in
Gang gesetzt werden.
Margit Walther-Zahn, Wiesbaden

Der SPIEGELfragt in dem Artikel im Zu-
sammenhang mit der Zurückweisung von
Migranten an der griechischen Grenze:
Schafft die EU das Asylrecht ab? Die Ant-
wort lautet: Nein! Nach Artikel 33 Absatz
1 der Genfer Flüchtlingskonvention darf
kein Flüchtling in Gebiete zurückgewiesen
werden, in denen »sein Leben oder seine
Freiheit wegen seiner Rasse, Religion,
Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit
zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder
wegen seiner politischen Überzeugung be-
droht« wäre. Letzteres droht den Migran-
ten in der Türkei nicht. Jetzt wollen sie die
Türkei nur deshalb verlassen, weil sie sich
ein besseres Leben in Europa erwarten.
Die in dem Artikel geschilderten Fälle
zweier syrischer Migranten sind insofern
exemplarisch.
Heinz-Jürgen Wurm, Siegburg (NRW)

Schuld und Verantwortung
Nr. 11/2020 Politikwissenschaftler Samuel
Salzborn über die deutschen Versäumnisse
im Umgang mit der NS-Vergangenheit

Ich bin am 11. Mai 1925 geboren und habe
die Nazizeit noch mit wachem Bewusst-
sein erlebt. Es wundert mich sehr, dass ein
Politikwissenschaftler hier so vollmundig
»Lüge« schreibt. Nach der Überwindung
des Nationalsozialismus gab es nämlich
durchaus ernsthafte Bestrebungen der Auf-
arbeitung, auch zu dem Hitlerwahn der
Judenvernichtung, ebenso wie es während
der Nazizeit Widerstand dagegen gab.
Herr Salzborn hat dazu vielleicht nicht ge-
nügend Zeitzeugen befragt oder gefunden.
Aber auch in einem solchen Fall erschiene
mir das emotionsgeladene Wort »Lüge«
fehl am Platz, so aufmerksamkeitserre-
gend es auch sein mag.
Robert Rheinert, Merzig (Saarl.)


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Briefe

HEIKE STEINWEG / SUHRKAMP VERLAG
Autor Benjamin Maack

Sollte es Samuel Salzborns Absicht sein,
die AfD-Lautsprecher herunterzudimmen,
hat er den Regler in die falsche Richtung
gedreht: Einen »Mythos der Unschuld«
gibt es ebenso wenig wie eine Kollektiv-
schuld. Solch grobe und nicht nachvoll-
ziehbare Pauschalisierungen erfassen nicht
die millionenfach tradierten Erinnerungen
aus dem als unbedeutend erachteten bös-
banalen Alltag des »Dritten Reichs«, wel-
che sehr viele von uns Nachgeborenen mit
sich herumtragen, schwer und leise, da sie
nicht wissen, wohin damit. Sie zu heben
und auszuwerten ist geeignet, die durchaus
breit vorhandene Bereitschaft zu verant-
wortlichem Erinnern zu unterstützen und
die Lautsprecher auf beiden Seiten leiser
werden zu lassen.
Günter Höffken, Tönisvorst (NRW)

Allein die Kenntnis davon, welches un -
vorstellbare Leid Deutschland in der Zeit
des Nationalsozialismus angerichtet hat,
»war so unerträglich, dass es verdrängt wur-
de«, wie Salzborn schreibt. Dass in diesem
exorbitanten Fall Menschen verdrängen,
weil sie einen Rest ihrer Selbstachtung nicht
verlieren wollen, ist nur zu verständlich.
Ebenso verständlich ist aber auch, dass die
Übernahme von Verantwortung für das
Tun und das Unterlassen bei jedem Einzel-
nen letztlich zum inneren Frieden führt,
auch wenn es ein schwieriger Weg ist.
Hartmut Gerhardt, Wolfschlugen (Bad.-Württ.)

Was soll diese Beschimpfung bewirken?
Ich bin Jahrgang 1953, habe vier Kinder
und fünf Enkelkinder. Sollen wir nach über
70 Jahren noch jeden Morgen aufstehen
und »mea culpa« sagen? Was hätten wir
denn mit unseren Eltern und Großeltern
machen sollen? Was stellt Herr Salzborn
sich hier vor?
Karin Mölter, Oberhausen (NRW)

Vielen Dank an den SPIEGELfür einen
großartigen und wichtigen Essay. Nach dem
Kriege kehrten die grausamsten und größ-
ten Massenmörder zurück in ihre Familien
als treu sorgende Väter, gute Lehrer, brave
Kirchgänger und hilfsbereite Nachbarn.
Jeder, der sie kannte, hätte seine Hand für
sie ins Feuer gelegt und geschworen: der
nicht! Aber das wird sich nie ändern.
Pit Goldschmidt, Hamburg

Ich halte es für gefährlich, wenn nicht ex-
plizit zwischen Schuld für Be- und Vergan-
genes und Verantwortung für Künftiges un-
terschieden wird. Der deutsche »Aufarbei-
tungsstolz« mag erbärmlich sein, aber der
Vorwurf, das Gros der Deutschen verdrän-
ge die Schuld von Opa und Oma und sei
darum nicht besser als ein Täter, der eigene
Schuld verdrängt, stärkt den AfD-Pöbel.
Sozialpsychologisch also höchst riskant!
Uli Schauerte, Köln

ANGELOS TZORTZINIS / AFP
Einsatz gegen Migranten auf Lesbos
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