Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020

Deutschland 29

Großbritannien 7

Spanien 10

Italien 13

Frankreich 12

Portugal 4

Lebenswichtiger Vorsprung


Intensivbetten in Europa
je 100 000 Einwohner

Quelle: Rhodes A. et al, 2012

Zusätzlich
haben sich Bund
und Länder auf
eine Verdoppelung
der Bettenzahl
geeinigt.

Coronakrise

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rund 165 000 Anfragen. Vor der Corona-
krise waren es 25 000 pro Werktag. Die
KBV spricht von einer »absoluten Aus -
nahme situation«. Auf ihrer Website ver-
weisen die Kassenärzte alle Patienten mit
Fieber und Husten darauf, sich im Ver-
dachtsfall an ein Gesundheitsamt zu wen-
den. Und so dreht sich das System im
Kreis.
Geschichten wie die von Axel Weber,
41, kennt inzwischen fast jeder Bundes-
bürger. Weber war bei einer Norwegen -
reise Anfang März in engen Kontakt mit
Reisenden aus den USA, China, Spanien
und Italien gekommen. Zu Hause zeigte
er mögliche Covid-19-Symptome, Fieber
und Husten, und wollte sich testen lassen.
Seine Odyssee begann bei der 116 117, er-
folglos. Dann meldete sich Weber beim
Ordnungsamt und wies darauf hin, dass
er als Betreiber einer Halle seit seiner
Rückkehr mit vielen Menschen in Kontakt
gewesen sei. Deshalb müsse man doch so
schnell wie möglich wissen, ob er infiziert
sei, um all diese Leute zu warnen. »Ich bin
echt sauer geworden«, sagt er. Es geschah
nichts.
Schließlich meldete sich das Gesund-
heitsamt der Stadt. Weber könne nun ge-
testet werden. Leider war das Labor, das
den Abstrich machte und auswertete, völ-
lig überlastet. »Ich habe am vergangenen
Montag einen Termin für den kommen-
den Montag bekommen, um 12.25 Uhr«,
sagt Weber: »Das ist dann ziemlich genau
elf Tage nach Auftreten der ersten Symp-
tome.« Den Termin will er trotzdem
wahrnehmen, auch wenn er dann viel-
leicht gar keine Symptome mehr habe.
Aber womöglich, meint Weber, interes-
siere sich dann wenigstens doch noch eine


Behörde dafür, mit wem er nach seiner
Rückkehr aus Norwegen Kontakt gehabt
habe.
Das Systemversagen wird bei Tausen-
den Geschichten dieser Art deutlich. Jeder
unterbliebene Test, jede nicht verhinderte
Ansteckung, entscheidet mit darüber, ob
es in den Intensivstationen der Republik
bald eng wird, ob es zum Kollaps kommt.
Von einer schnellen und umfassenden Co-
rona-Testung, mit der das Virus zum Bei-
spiel in Südkorea erfolgreich eingedämmt
wurde, kann in Deutschland jedenfalls
keine Rede sein.

Die Lehren
Deutschland, das sich eines der besten
Gesundheitssysteme der Welt rühmt, hat
viele gefährliche Schwächen. Anders als
oft behauptet wird, ist das System nicht
kaputtgespart worden, im Gegenteil. Seit
Jahren steigen die Ausgaben für Gesund-
heit. Von 2009 bis 2019 kletterten die Aus-
gaben der gesetzlichen Krankenversiche-
rung von 167 auf 246 Milliarden Euro.
Das Geld aber landete oft an der fal-
schen Stelle. Bei Radiologen oder Ortho-
päden statt bei den Hausärzten, die als ers-
te Anlaufstelle für verunsicherte Patienten
dringend gebraucht werden. Und schon
gar nicht bei den Krankenpflegern.
Die falsche Verteilung des Geldes hat
viel mit der deutschen Krankenhausfinan-
zierung zu tun. Seit 2003 werden Klinik-
leistungen über sogenannte Fallpauschalen
vergütet. Für jede Knie- oder Wirbelsäu-
len-OP erhalten die Krankenhäuser eine
festgesetzte Summe Geld – egal wie viele
Tage der Patient auf der Station liegen muss
und wie aufwendig er versorgt wird. Für
Klinikmanager ergibt sich daraus eine simp-
le Logik: Mit planbaren Operationen lässt
sich besonders gut verdienen, sofern mög-
lichst wenig für die Pflege ausgegeben wird.
Und so rüstet ausgerechnet Deutsch-
land, eines der reichsten Industrieländer
der Welt, seine Kliniken mit Spitzentech-
nik in den Operationssälen hoch, stellt pro
Krankenhausbett aber weniger Pflegestel-
len bereit als Estland oder die Slowakei.
SPD-Politiker Karl Lauterbach formuliert
es drastisch: »Seit den Fallpauschalen gilt,
der Arzt ist eine Investition, die Pflege-
kraft ist Kostenballast.« Seit Jahren warnt
der Gesundheitsökonom davor, dass die
Einheitshonorierung im Krankenhaus die
Anreize für schlechte Pflege erhöhe.
Auch Ärzte leiden unter dem System.
»Krankenhäuser sind längst einer indus-
triellen Logik unterworfen. Dabei macht
es keinen Sinn, Kliniken wie Fabriken zu
betreiben. Es darf nicht primär ums Geld
gehen«, warnt Peter Hoffmann, Oberarzt
einer Münchner Klinik und Vorstand beim
Verein demokratischer Ärztinnen und Ärz-
te, der sich als Gegenpol zu den traditio-
nellen Verbänden sieht.
»Wir werden hinterher nicht einfach zum
Alltag zurückkehren können«, mahnt Axel
Fischer, der Geschäftsführer der München
Klinik. »Wir werden unser Gesundheits -
system auf den Prüfstand stellen müssen.«
Vielleicht brauchte es erst eine Pan -
demie, um das zu begreifen.
Matthias Bartsch, Jörg Blech,
Annette Bruhns, Lukas Eberle,
Katrin Elger, Markus Feldenkirchen,
Kristina Gnirke, Hubert Gude,
Veronika Hackenbroch, Julia Jüttner,
Martin U. Müller, Cornelia Schmergal,
Steffen Winter

REVIERFOTO / DDP IMAGES

Testpersonal bei Einsatz in Oberhausen: Endlose Warteschleifen und überlastete Leitungen
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