Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

H


ans-Jochen Vogel ist Jahrgang 1926,
das macht gelassen. »Mit 94 Jahren
hat man vor dem Ende des Lebens
sowieso keine Angst mehr«, erzählt der
SPD-Politiker und ehemalige Bundes -
minister am Telefon. Jedoch: »Natürlich
würden wir gern vermeiden, dass meine
Frau oder ich diese Corona-Krankheit be-
kommen.«
Vogel lebt mit seiner Frau im Augusti-
num-Seniorenstift im Münchner Stadtteil
Hadern. Derzeit verlässt er seine Woh-
nung nicht, die Mahlzeiten bekommt das
Paar in das Apartment geliefert, das Res-
taurant der Anlage ist geschlossen, Kinder
und Enkel kommen derzeit nicht. »Wir hal-
ten telefonischen Kontakt nach außen«, so


Vogel. »Und zwar nur per Telefon, weil
wir noch in der analogen Welt leben.«
Vogel war Zeitzeuge der Ausgangssper-
ren nach dem Zweiten Weltkrieg. Als die
Rote Armee Fraktion Deutschland mit
Terror überzog, gehörte er der Bundes-
regierung an. Die Coronakrise sei anders:
»Etwas Vergleichbares habe ich bislang
nicht erlebt«, sagt Vogel. »Heute ist es
eine weltweite Situation.«
Die Maßnahmen, die das öffentliche Le-
ben beinahe zum Erliegen bringen, sollen
vor allem die Älteren schützen. Denn bei
ihnen verläuft die Krankheit oft schwerer
oder gar tödlich. In einem Würzburger
Pflegeheim starben vier der Bewohner an
Covid-19.

Nun wird überall dichtgemacht.
»Wegen der Ansteckungsgefahr mit Co-
rona schließen wir unser Haus sofort und
bis auf Weiteres« – solche Aushänge wie
in einem Münchner Seniorenpflegeheim
sind derzeit überall zu lesen. Die Glasschie-
betüren öffnen sich nicht mehr automa-
tisch, in der Schleuse steht ein Spender
mit Desinfektionsmittel. Die Last der Ver-
antwortung, die auf den Heimleitern und
den Pflegekräften liegt, ist groß. Nicht je-
der fühlt sich gut genug vorbereitet.
Eine dramatische Situation wie im
Würzburger Pflegeheim oder im Haus Als-
tertal in Hamburg möchte keiner erleben.
In der Hansestadt war in der vergangenen
Woche ein 76-jähriger Rentner mit Vor -
erkrankung gestorben. Dass er das Corona -
virus in sich trug, hatten die Ärzte erst nach
seinem Tod festgestellt.
Ob er andere Heimbewohner oder Pfle-
ger angesteckt hat, lässt sich bislang nicht
sagen. Am Dienstag holten Rettungskräfte
der »Bild«-Zeitung zufolge weitere Senio-
ren mit Fieber ab, um sie in ein nahe gele-
genes Krankenhaus zu bringen. Darüber,
ob die Einrichtung geschlossen werden

Coronakrise

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#bleibtgesund


SeniorenDie Seuche bedroht vor allem alte Menschen.
Der Druck auf die Pflegekräfte
steigt – wie sicher ist das Leben in den Heimen?

ALESSANDRA SCHELLNEGGER / PICTURE ALLIANCE / SZ PHOTO
Ehemaliger SPD-Vorsitzender Vogel im Münchner Augustinum-Stift: »Etwas Vergleichbares habe ich bislang nicht erlebt«
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