Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
Desinfektionsmittel ausgeht. »Bei uns wur-
de nichts geklaut, und wir haben einen Be-
stand, der über Wochen reichen würde.
Ansonsten wäre ich jetzt nervös«, sagt sie.
Derartige Materialvorräte sind allerdings
nicht in allen deutschen Altenheimen
selbstverständlich. Entsprechend groß ist
die Unsicherheit bei manchen Heimbetrei-
bern und ihren Angestellten.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz
sieht ein weiteres Problem: Die meisten
Altenheime seien nicht in der Lage, Coro-
na-Patienten innerhalb der Einrichtung
ausreichend zu isolieren, sagt Stiftungsvor-
stand Eugen Brysch.
Dafür gebe es nicht genügend Pflege-
kräfte, Ärzte und Räumlichkeiten. Er for-
dert von der Regierung deshalb einen Not-
fallplan für Pflegeheime und ambulante

Dienste, so wie es ihn bereits für Kranken-
häuser gibt: Um Kliniken zu entlasten, die
sich auf den Aufbau von Intensivbetten
konzentrieren, sollen an anderen Kranken-
häusern und gegebenenfalls auch an pro-
visorischen Standorten wie Hotels oder
Hallen zusätzliche Betten- und Behand-
lungskapazitäten aufgebaut werden.
Die Regierung will die Pflegeheime
außerdem durch weniger Bürokratie ent-
lasten. Der medizinische Dienst soll alte
Menschen nicht mehr körperlich untersu-
chen, um sie in eine Pflegestufe einzuord-
nen. Stattdessen sollen die Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter dort helfen, wo sie
im Moment viel mehr gebraucht werden:
in Gesundheitsämtern und Pflegeeinrich-
tungen.
Es gehe bei der Forderung nach eigenen
Quarantäne- und Schutzkonzepten für die
Altenheime nicht um Panikmache, sagt
Brysch, sondern darum, »einen realisti-
schen Blick auf die örtlichen Möglichkei-
ten« zu haben.
Auch Frank Kadereit, Geschäftsführer
der Evim-Altenhilfe, findet es wichtig, die
»Problemlage klar zu benennen«, ohne
den Menschen Angst zu machen. Was er
sagt, klingt allerdings nicht gerade beruhi-
gend. Zu seinem Unternehmen gehören
zwölf Häuser in Rheinland-Pfalz und Hes-
sen, in denen 1200 Menschen betreut wer-

muss, entscheidet das zuständige Gesund-
heitsamt. Bisher läuft der Betrieb weiter.
Es seien keine weiteren Infektionsfälle
im Haus Alstertal bekannt, sagt ein Spre-
cher der Hamburger Gesundheitsbehör-
de, die im engen Austausch mit den Ver-
antwortlichen im Heim steht. Bei einem
Verdacht würden die Betroffenen aber
selbstverständlich direkt vor Ort auf Co-
rona getestet und isoliert werden, Pflege-
kräfte beträten dann die Zimmer nur
noch in geeigneter Schutzkleidung. Die
Senioren bekämen das Essen momentan
in ihren Zimmern serviert und müssten
Abstand zueinander halten. »Und natür-
lich sind alle dazu angehalten, verstärkt
auf Hygienemaßnahmen zu achten«, sagt
der Behördenmitarbeiter. »Trotzdem
muss es gelingen, die Menschen adäquat
zu betreuen. Bei der Altenpflege ist eine
bestimmte Nähe nicht zu vermeiden,
etwa beim Waschen.« Das ängstigt beide
Seiten: die Alten, die sich anstecken könn-
ten, aber natürlich auch die Pflegerinnen
und Pfleger, die ebenfalls um ihre Gesund-
heit fürchten.
Wenige Kilometer vom Haus Alstertal
entfernt liegt, umgeben von hohen Bäu-
men, das Cura Seniorencentrum Haus Ler-
chenberg in Hamburg-Volksdorf. Auch
hier hängt nun ein Zettel an der Tür: »Un-
sere Einrichtung bleibt bis auf Weiteres
für Besucher geschlossen!« Wer reinwill,
muss klingeln. »Sowohl die Bewohner als
auch die Angehörigen haben dafür großes
Verständnis. Die wollen ihre Eltern und
Großeltern in Sicherheit wissen«, sagt Sa-
bine Becker, die das Heim seit mehr als
zehn Jahren leitet. Neun von zehn Haus-
bewohnern sind älter als 80 Jahre. Viele
von ihnen haben ein schwaches Immun-
system und sind krank. »Wir hatten bisher,
Gott sei Dank, noch nicht einmal einen
Verdachtsfall«, sagt Becker. In der gesam-
ten Unternehmensgruppe mit mehr als
5600 Mitarbeitern gebe es bisher keinen
infizierten Kollegen. »Stimmung und Zu-
sammenhalt sind immer noch gut.«


Becker hofft, dass auch die rüstigeren un-
ter den Bewohnern die Warnungen, Ab-
stand zu anderen zu halten, ernst nehmen.
Mittwochs und samstags gibt es in Volks-
dorf einen Wochenmarkt. Vom Haus Ler-
chenberg sind es bis dorthin nur ein paar
Hundert Meter, selbst im fortgeschrittenen
Alter ist das gut zu schaffen. Die kleine
Einkaufstour ist unter den Senioren be-
liebt. Auch am vergangenen Mittwoch sind
einige von ihnen dorthin spaziert. »Ich
kann ihnen das nicht verbieten«, sagt Be-
cker. »Es gibt ja keine Ausgangssperre.«
Sollte es im Haus Lerchenberg zu einem
Verdachtsfall oder einer Infektion kom-
men, müssten die Pflegerinnen und Pfle-
ger ihrer Chefin zufolge nicht fürchten,
dass ihnen die Schutzkleidung oder das


DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020 17


den. »Im Akutfall einer Infektion mit dem
Coronavirus wären wir kurzfristig hand-
lungsfähig für einen beschränkten Zeit-
raum von wenigen Tagen«, sagt er. Des -
infektionsmittel würde »nur stockend« ge-
liefert. Zudem mangle es »eklatant« am
Nachschub an Einmalschutzkitteln und
Masken.

Der Unternehmer hat einen heimübergrei-
fenden Krisenstab eingerichtet. Tritt ein
Corona-Fall auf, sollen folgende Regeln gel-
ten: Die Betroffenen werden isoliert und
nur noch von denselben Mitarbeitern be-
treut. »Die Schutzausrüstung wird dann
auf diese Personen konzentriert«, sagt Ka-
dereit.
Er befürchtet, Corona-Patienten müss-
ten schon bald direkt in den Altenheimen
betreut werden, weil die Krankenhäuser
überlastet sind. »Unseren Mitarbeiterin-
nen fehlt aber ein spezielles Wissen darü-
ber, wie Beatmungsgeräte für intubierte
Bewohner zu bedienen wären«, sagt er.
Und wer soll die kranken Senioren pfle-
gen, wenn die Heimmitarbeiter selbst mit
Corona oder Grippe flachliegen? Viele hät-
ten Angst, sich während der Arbeit zu in-
fizieren, sagt Kadereit. Ein Teil der Pfle-
genden sei bereits älter als 60 und gehöre
damit selbst zur Risikogruppe.
Die meisten Deutschen wissen, was den
Pflegerinnen und Pflegern abverlangt
wird. Die sozialen Netzwerke sind voll mit
Lobreden auf »die Helden«, »Euch gehört
aller Respekt und Hochachtung«, schreibt
etwa eine Twitter-Nutzerin. »Danke, dass
es euch gibt. #COVID19de #bleibtge-
sund«, heißt es an anderer Stelle.
Nicht alle Pfleger freuen sich über die
plötzliche Aufmerksamkeit. »Jaja, danke,
dass ich für die alten Menschen in diesem
Land als Altenpfleger da bin«, schreibt ei-
ner. »Spart euch dieses fadenscheinige Lob
und pumpt endlich mehr Geld ins Pflege-
system.« Ein anderer postet: »Pflegekräfte
sollten generell unabhängig von Katastro-
phen und dergleichen gewertschätzt wer-
den. Denn sie sind diejenigen, die Dir hel-
fen, wenn es Dir schlecht geht.« Der twit-
ternde Pfleger scheint sich seine gute Lau-
ne trotz allem bewahrt zu haben: »Wenn
ich könnte, würde ich auch ins #Homeof-
fice gehen«, schreibt er. »Aber als Alten-
pfleger, hm?? Also fahre ich morgen wie-
der hin und bringe den Menschen dort ein
bisschen Sonnenschein.«
Auch Hans-Jochen Vogel, der hochbe-
tagte Bewohner im Münchner Augusti-
num, bleibt optimistisch. »Ich hoffe, dass
die Gesellschaft durch diese Erfahrung so-
lidarischer wird«, sagt er. »Dass die Men-
schen künftig stärker füreinander da sein
wollen.«
Katrin Elger, Jan Friedmann,
Kristina Gnirke

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Senioren lebten Ende 2017
in14 500Altenheimen.
Das sind 24 Prozent von
3,4 Mio.Pflegebedürftigen
in Deutschland.
Quelle: Statistisches Bundesamt 2019
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