Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
Migration

Kinder dürfen


kommen


 Bundesinnenminister Horst
Seehofer (CSU) hält trotz der
Einreisebeschränkungen an
seinem Versprechen fest, Min-
derjährige aus den grie-
chischen Lagern aufzuneh-
men. »Wir haben zugesagt,
dass wir uns bei der Aufnah-
me beteiligen«, so Seehofer
gegenüber dem SPIEGEL:
»Dazu stehen wir.« Wegen der
Corona-Pandemie hat sein
Haus angeordnet, dass Aus-
länder in der Regel nicht mehr
nach Deutschland einreisen
dürfen. Ausgenommen ist
jedoch die Aufnahme jener
besonders schutzbedürftigen
Kinder, auf die sich Deutsch-
land und EU-Staaten wie
Frankreich, Irland, Portugal
und Finnland Mitte März


geeinigt hatten. »Das Heft des
Handelns liegt jetzt bei der
Kommission«, sagt Seehofer
mit Blick gen Brüssel. Nach
den Plänen sollen 1600
Flüchtlinge aus den grie-
chischen Lagern geholt wer-
den. Deutschland will vor
allem kranke Kinder und
ihre Familien aufnehmen,
Mädchen unter 14 Jahren sol-
len besonders berücksichtigt
werden. Unterstützt wird das
Vorhaben vom niedersäch -
sischen Innenminister Boris
Pistorius (SPD). Dass See -
hofer seine Zusage bekräftigt,
begrüße er »außerordentlich«,
so Pistorius. Es überfordere
Deutschland nicht, soweit
dabei Vorsichtsmaßnahmen
getroffen würden. Pistorius:
»Die Kinder brauchen unsere
Hilfe, die Situation in diesen
Lagern ist um ein Vielfaches
schlimmer, als wir uns vorstel-
len können.« KNO, LYR

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Energiewende

Streit um Ausbau


der Windkraft


 Bei der Suche nach einem
Kompromiss für die
Abstandsregelung von Wind-
kraftanlagen ist es in der
Großen Koalition zum Eklat
gekommen. In der entschei-
denden Sitzung vergangene
Woche lieferten sich nach
Teilnehmerangaben CDU-
Fraktionschef Ralph Brink-
haus und SPD-Vize Matthias
Miersch einen heftigen
Schlagabtausch. Dabei ging es

um die im Herbst vom Klima-
kabinett verabredete Rege-
lung, wonach pauschal zwi-
schen Windkraftanlagen und
Wohnbebauung 1000 Meter
Abstand eingehalten werden
soll. Brinkhaus warf dem
SPD-Umweltexperten Wort-
bruch vor, weil dieser gefor-
dert hatte, die Länder sollten
weiterhin eigene Abstands -
regeln definieren können.
Der Windkraftkompromiss
sei für die Union entschei-
dend gewesen, dem gesamten
Klimapaket zuzustimmen,
sagte Brinkhaus. Nun fahre
die SPD einen totalen Blocka-
dekurs. Miersch habe laut
Teilnehmern mit den Worten
den Raum verlassen, er gehe
jetzt besser. Man müsse ja
auch künftig zusammenarbei-
ten. Zur Lösung des Konflikts
ist nun eine Arbeitsgruppe
zwischen Bund und Ländern
eingerichtet worden. Denn
auch die Ministerpräsidenten
wollen, ausgenommen von
Sachsen, dass man es bei den
in den Bundesländern bereits
bestehenden Regelungen ein-
fach belässt. Doch der Wirt-
schaftsflügel der CDU beharrt
auf einer bundeseinheitlichen
Lösung. GT, SSU

Alexander Neubacher Die Gegendarstellung

Unsanft & unsicher


Toilettenpapier ist zum Symbol der Coronakrise
geworden. Beziehungsweise Toilettenpapier -
mangel. Überzeugen Sie sich in Ihrem Super-
markt. Deutschlands Produktion läuft auf
Hochtouren, die Lieferketten sind intakt, täglich
kommt Nachschub – und trotzdem werden
Sie Probleme haben, ein paar Rollen zu ergattern.
Das Internet ist voll mit Fotos von geplünderten Regalen
und Menschen, die sich ums letzte Paket streiten. Es kursiert
ein Handyvideo aus einem Drogeriemarkt; die Verkäuferin
entreißt einer Kundin eine Packung »Sanft & Sicher 3 Lagen«.
Die Frau wehrt sich, hat aber schlechte Karten, weil sie
bereits weitere Packungen auf das Kassenband gelegt hat.
Man sieht in dem Video, wie sich die Kontrahentinnen fast an
die Gurgel gehen, hört Satzfetzen wie »bist du bekloppt, oder
was?« und denkt, dass die Zivilisation nur ein dünner Firnis ist
und gleich darunter die Barbarei.
Warum Klopapier? Der offensichtlichste Grund ist, dass es
sich um ein nützliches Produkt handelt, das sich anders als
Salatköpfe »gut bunkern« lässt, wie der Bochumer Psycholo-
gieprofessor Jürgen Margraf im WDR sagte. Es schadet nicht,
ein paar Rollen extra im Keller zu haben.
Zumal viele Familien jetzt den ganzen
Tag zu Hause sind. Für Menschen, die
sich in den nächsten Monaten von Serbi-
scher Bohnensuppe und Feuerzauber
Texas ernähren, dürfte der Bedarf an
Klopapier ebenfalls steigen; ein Wirt-
schaftswissenschaftler würde hier von
»Komplementärgütern« sprechen.
Der zweite Grund ist Misstrauen
gegenüber den Mitmenschen. Ja, die
Gerüchte vom Klopapierengpass sind
erfunden. Doch wenn andere die Gerüchte glauben, wird
der erfundene Engpass zum realen Mangel. Hier kommt ver-
schärfend hinzu, dass Lücken im Klopapiersortiment auffallen.
Wenn nur zehn Kunden je zwei Packungen Klopapier mitneh-
men, klafft im Regal gleich ein Riesenloch. Und so sorgt sich der
elfte Kunde, dass er am Ende der Dumme ist, wenn er jetzt nicht
auch zugreift, selbst wenn er das eigentlich für Blödsinn hält.
Und schließlich: Misstrauen gegenüber den Autoritäten.
Nachdem die führenden Politiker täglich neue und teils wider-
sprüchliche Informationen über die Coronakrise ausgesendet
haben, fragen sich viele Bürger, warum man den Beteuerungen
zur Versorgungssicherheit Glauben schenken sollte.
Wie lässt sich die Klopapierkrise auflösen? Kanzlerin Angela
Merkel appelliert an unsere Moral, ebenso Grünenchef
Robert Habeck: »Wir sollten nicht Klopapier-hamsternd sein,
sondern solidarisch«, sagte er in einem Zeitungsinterview.
Ich glaube, dass Markus Söder hier auf seine ruchlose Art
überzeugender ist. Am Mittwoch besuchte er ein Rewe-
Zentrallager in Eitting und inspizierte die Hochregale voll
Klopapier in allen Stärken und Farben. Söder sah aus
wie einst Bundeskanzler Gerhard Schröder im Kampf gegen
die Jahrhundertflut 2002, nur ohne Gummistiefel, als er
verkündete, es gebe keinen Grund für Hamsterkäufe, die
Versorgung sei sichergestellt.
»Jedenfalls«, so Söder, »in Bayern.«

An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen und Alexander
Neubacher im Wechsel.

Krisen -
ökonomie:
Erfundener
Engpass wird
zum realen
Mangel.

SCHEIDEL,MARCUS / ACTION PRESS
Windräder in Thüringen
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