Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

E


s gibt ein Wort, das die Bundes-
kanzlerin meidet, obwohl es ihr
Denken und Handeln bestimmt.
Sie sagt es ungern in den Kabi-
nettssitzungen und Telefonschalten, sie
erwähnte es nicht in ihrer Fernsehanspra-
che an die Deutschen am Mittwochabend.
Dieses Wort, Angela Merkels Unwort,
heißt Ausgangssperre.
Sie will sie nicht. Die meisten ihrer Mi-
nister wollen sie nicht. Nicht die ganze
Freiheit aufgeben, nicht ein so starkes
Krisensignal senden, dass womöglich die
Geschäfte noch mehr bestürmt werden,
nicht die Leute in ihren Wohnungen zu-
sammenpferchen. »Hätten wir am Ende
mehr Scheidungen oder mehr Babys?«,
fragt sich ein Kabinettsmitglied.
Deshalb war Merkels Fernsehrede vor
allem eine Ausgangssperrenvermeidungs-
rede. Eine letzte Warnung. Haltet Abstand
voneinander, bleibt in der Regel freiwillig
zu Hause, sonst ...
Nun wartet sie. Was machen ihre Deut-
schen?
Bundesinnenminister Horst Seehofer
wartet ebenfalls und sagt das Wort, das sie
nicht sagen mag: »Wenn die Menschen
sich nicht an die bisherigen Vorsichtsmaß-
nahmen zur Kontaktvermeidung halten
und die Zahl der Infizierten in Deutsch-
land weiter deutlich steigt, halte ich Aus-
gehverbote für unumgänglich. Wir müssen
innerhalb der nächsten Tage sehen, ob die
bisherigen Maßnahmen ausreichen, um
den Anstieg an Infizierungen zu bremsen.«
Deutschland ist schon stiller geworden,
an manchen Orten so still wie in einer
Nacht. Es wird spürbar, welche Katastro-
phe über die Welt hereingebrochen ist.
Mehr Infizierte, mehr Tote, jeden Tag. Die
meisten Geschäfte geschlossen, ein ewiger
Sonntag.
Gute Stille, böse Stille. Das ist das Pro-
blem für die Politik. Je ruhiger, desto
schlechter für das Virus. Je ruhiger, desto
schlimmer für die Wirtschaft.
Es ist ein Dilemma, wie von einem Teu-
fel ersonnen. Was das Virus eindämmen


könnte, das Einfrieren des Alltags, lässt
die Wirtschaft abstürzen. Man kann hier
nur verlieren, fragt sich nur wie stark.
Für die Demokratien stellt sich zusätz-
lich das Problem, dass sie sich für den
Selbsterhalt immer fragen müssen, wie
viel Freiheit sie für die Sicherheit aufgeben
wollen. Autoritäre Staaten haben dieses
Problem nicht. Deshalb gibt es jetzt auch
einen Systemwettbewerb. Die Demokra-
tien fürchten, dass sie als Ganzes bedroht
sind, wenn nun China oder Singapur bes-
ser für den Schutz der Bevölkerung sorgen
könnten. Und was wird aus Europa, wenn
in der Krise jeder Nationalstaat nur an sich
denkt? Es geht wirklich um sehr, sehr viel.
Diese Krise, die alles verändert, trifft in
Deutschland und anderswo auf ein politi-
sches System, trifft auf Politiker, die nicht
dafür gemacht sind. Das System leistet sich
bei seinen Verfahren eine Menge Umständ-
lichkeiten, die Politiker sind vor allem im
Machtspiel geschult. Das war schon in bes-
seren Zeiten ein Problem, nun scheint es
gar nicht mehr zu passen.
Aber es muss. Die Politik muss dieses
Land einigermaßen gut durch die Krise
steuern, muss angesichts der Widersprü-
che die besten Kompromisse, die besten
Lösungen finden, damit möglichst viele
Menschen bei möglichst geringer Einbuße
an Wirtschaftskraft überleben.
Wie ist Deutschland dafür gerüstet? Ein
Blick auf das politische Verfahren, die
Akteure in Bund und Ländern und die Ver-
waltung, die alle Beschlüsse der Politik
umsetzen muss. Wie haben sie sich bis -
lang geschlagen? Ist Deutschland bei den
Akteuren der Krise in guten Händen?

Das Verfahren: Alle reden mit
Donnerstag der vergangenen Woche, die
bayerische Landesvertretung in Berlin.
Die Regierungschefinnen und -chefs der
Bundesländer sitzen zusammen, diskutie-
ren vor allem die Frage, ob man die Schu-
len schließen müsse. Bildungspolitik ist
Ländersache. Infektionsschutz auch. Aber

die Länder wollen nach ihrem Treffen
möglichst mit einer einheitlichen Position
bei Bundeskanzlerin Merkel vorsprechen.
Föderalismus plus informeller Zentra-
lismus, so ist das Verfahren. Nach Gesprä-
chen mit mehreren Teilnehmern ergibt
sich dieses Bild des Treffens:
In der Runde der Ministerpräsidenten
dominiert Markus Söder (CSU) aus Bayern.
Er fordert vehement: dichtmachen. Sein
hessischer Kollege Volker Bouffier (CDU)
plädiert ebenso vehement dagegen.
Und jetzt? Wie wird man sich einig?
In der Krise zählen nicht Parteien, es
zählt etwa die Geografie. Vor allem Grenz-
länder neigen zu Schulschließungen. Auch
Söders Entschiedenheit dürfte zu einem
guten Teil mit der Nähe zu Österreich und
Italien zu tun haben. Eine alte Angst kehrt
zurück, als würde hinter den Grenzen das
Bedrohliche lauern.

Coronakrise

22


Gute Stille,


böse Stille


KrisenpolitikNichts hat die Bundesrepublik auf diese


Katastrophe vorbereitet. Die Trägheit des Föderalismus,
das ewige Machtspiel der Politiker – das war schon in

normalen Zeiten schwierig. Nun muss sich eine Menge ändern.

Free download pdf