Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
Coronakrise

habe, und von einem Austausch mit einer
Fachkollegin. Beides habe ihn davon über-
zeugt, dass Schulschließungen unter be-
stimmten Voraussetzungen sinnvoll seien.
Einigen Regierungschefs sei »die Kinn-
lade auf den Tisch gefallen«, berichtet ein
Teilnehmer.
Nach rund anderthalb Stunden verlas-
sen die Wissenschaftler den Raum. Die Po-
litiker streiten sofort wieder über Schul-
schließungen. Es wird hitzig. Die Bundes-
kanzlerin versucht zu moderieren und
wird von einem Teilnehmer als »gewohnt
nüchtern« wahrgenommen.
Bremens Bürgermeister Andreas Bo-
venschulte (SPD) sagt sinngemäß, man
wisse doch, dass mehrere seiner Kollegen
bereits entschieden hätten, die Schulen zu
schließen. Dann könnten auch die anderen
nicht mehr anders. Bayern ist gemeint.
Damit ist ein Gesetz dieser Krisenpoli-
tik benannt: Es gilt nominell der Födera-
lismus, aber in Wahrheit der Zentralismus
der härtesten Maßnahme. Sie setzt sich
oft durch, weil niemand als zu lasch in sei-
ner Krisenpolitik gelten will. Nach und
nach schließen alle Bundesländer ihre
Schulen.
Krisenmanagement heißt derzeit häufig
nachzuvollziehen, was andernorts bereits
umgesetzt ist.


Die Krisenmanager des Bundes:
Die Ähnlichen

Die Bundeskanzlerin will das nicht, nein,
auf keinen Fall. Sie weiß, als ehemalige
Bürgerin der DDR, was es heißt, wenn die
Grenzen geschlossen sind, es keine Reise-
freiheit gibt. Und im September 2015
stand sie auch für eine Politik der offenen
Grenzen, als sie Flüchtlinge, die in Ungarn
gestrandet waren, ins Land ließ.
Sie will nicht, dass Deutschland sich in
der Coronakrise abschottet. Schon um den



  1. Februar herum hat ihr die Bundespoli-
    zei den Vorschlag gemacht, Kontrollen an
    den Grenzen einzuführen. Abgelehnt.
    Bundesinnenminister Horst Seehofer
    drängt weiter: die deutschen Grenzen
    zu Österreich, Frankreich, der Schweiz,
    Luxemburg oder Dänemark weitgehend
    schließen und nur noch für Waren und
    Berufspendler offen lassen. Merkel hält
    dagegen, der freie Güterverkehr könne
    trotzdem beeinträchtigt werden und die
    Versorgungslage gefährden.
    Seehofer kommt schließlich unfreiwillig
    Frankreichs Premierminister zu Hilfe. Mit
    dessen Verkündung, bis auf wenige Aus-
    nahmen alle Geschäfte zu schließen, ver-
    setzt er die Ministerpräsidenten der deut-
    schen Grenzregionen in Aufregung. Sie
    befürchten, dass massenhaft Konsum -
    touristen nach Deutschland kommen und
    die Regale leer räumen würden. Wieder
    dominiert die Geografie.


In einer Telefonschalte am Sonntag wird
die Kanzlerin bearbeitet – und überzeugt.
Mehr Grenzkontrollen.
Merkel gleitet nur langsam in die Rolle
der obersten Krisenmanagerin hinein. Sie
ist vorsichtig, will keine Fehler machen.
Wo ist Merkel? Eine alte Frage an diese
Kanzlerschaft wird zu Beginn der Krise
besonders dringlich.
Am Mittwochabend taucht Merkel ganz
aus der Deckung auf, hält eine Fernseh -
ansprache an die Nation. ARD und ZDF
strahlen sie zur besten Sendezeit aus. Es
ist, für Merkels Verhältnisse, eine hoch
emotionale Rede, ein eindringlicher Ap-
pell. »Es ist ernst. Nehmen Sie es auch
ernst«, sagt die Kanzlerin. Sonst kommen
... sie sagt das Wort nicht.
Aber auch in dieser Rede tritt Merkel
nicht als starke Frau auf, nicht vor allem
als Handelnde, sondern eher als Mahnerin.
Alle müssten mitmachen, »es kommt auf
jeden an«. Also noch ein Akteur. Bund,
Länder, Kommunen, Experten, Bürger. Sie
alle machen Krisenpolitik.
War bislang vor allem von Gesellschaft
die Rede, womit eher die Vielfalt ausge-
drückt wird, wechselt Merkel in ihrer Rede
zum Wort Gemeinschaft, was eher die Ein-
heit betont. Deutschland als große Familie,
mit Mutter Merkel. Sie schaut sehr streng,
als sie zum Einkaufen mit Maß mahnt.
Bei der Rede liegen ihre Hände auf dem
Tisch als Raute, die sie häufig öffnet und
schließt. Nervös? Wahrscheinlich mehr
wegen der Kamera als wegen der Lage.
Unerschütterlichkeit ist eine ihrer heraus-
ragenden Eigenschaften, gar nicht schlecht
für eine Krise, wo so ziemlich alles erschüt-
tert wird.
Ernst wird es nun auch für ihre Minister.
Vor der Kabinettssitzung am Mittwoch
mahnt Merkel: »Ihr steht zu dicht bei -
einander.«
Merkel ist promovierte Physikerin, und
als Wissenschaftlerin vertraut sie Wissen-
schaftlern, aber als Politikerin weiß sie,

dass frühe Worte ein Risiko für den
Sprechenden sind, und sie ist die beste
Hüterin der Worte von allen. Also hat sie
gewartet, ließ andere sich korrigieren, ließ
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn
reden.
Diese Phase ist vorüber, jetzt meldet sie
sich beinahe täglich zu Wort und verkün-
det die neuen Maßnahmen der Regierung.
Enge Parteifreunde hatten ihr geraten, end-
lich in die Offensive zu gehen. In Krisen
sei ein starker Staat gefordert, die Bürger
erwarteten klare Ansagen.
Seit die Kanzlerin die Führung über-
nommen hat, ist Jens Spahn in die zweite
Reihe gerückt. Wie ein Radrennfahrer, der
dem Kapitän seines Teams vor der ent-
scheidenden Phase Windschatten geben
musste.
Der Irrtum zu Beginn bleibt an ihm haf-
ten, nicht an ihr. Die Gefahr für Deutsch-
land, sagte Spahn noch am 22. Januar der
»Süddeutschen Zeitung«, werde von Fach-
leuten derzeit als »sehr gering« einge-
schätzt. Aus heutiger Sicht eine riskante
Fehleinschätzung.
Spahn weiß, was ihm droht. Wird sich
am Ende herausstellen, dass er die Gefahr
einer Epidemie unterschätzt hat, wird er
sein Amt verlieren und die Aussichten auf-
zusteigen.
Öffentlich erklärte zunächst Spahn, wa-
rum Grenz- oder Schulschließungen keine
Lösung sein könnten, und nicht Merkel,
obwohl sie das genauso sah wie ihr Minis-
ter. Dass er längst damit begonnen hatte,
Landräte von dirigistischen Lösungen zu
überzeugen, von Quarantänemaßnahmen
oder der zentralen Unterbringung von
Reise rückkehrern, wurde öffentlich nie
bekannt. Nach außen sagte Spahn, über
diese Details entschieden die Länder. Das
war nicht falsch. Aber vielleicht nicht
unbedingt klug.
Es wird jedoch nicht lange dauern, bis
Jens Spahn wieder im Fokus der Aufmerk-
samkeit steht. Dann, wenn die Kliniken
sich fragen müssen, ob sie genug Be -
atmungsgeräte für alle Schwerstkranken
haben. Wenn sich beweisen muss, ob das
deutsche Gesundheitssystem tatsächlich
so gut vorbereitet ist, wie Spahn es anfangs
behauptet hat.
Vor allem daran wird er gemessen wer-
den. So wie die Kollegen Olaf Scholz
(SPD), Bundesfinanzminister, und Peter
Altmaier (CDU), Bundeswirtschaftsminis-
ter, irgendwann an der Zahl der Arbeits -
losen und am Bruttoinlandsprodukt.
Spahn, Scholz, Altmaier, Merkel – was
diese Bundespolitiker allesamt verbindet
und auszeichnet, ist die Nüchternheit,
Sachlichkeit. Sie sind nicht auf Show aus,
sie sind Pragmatiker, durchaus macht -
bewusst, aber teamfähig. Das ist eine Stär-
ke, aber in der Homogenität auch eine
Schwäche.

24 DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020


65


Prozent der Wahlberechtigten
sind mit dem Krisenmanage-
ment der Bundesregierung
momentan zufrieden.

Quelle: Infratest Dimap für den ARD-Deutschland-
Trend am 17. und 18. März
Free download pdf