Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
dieser Lage absolut transparent. Wir ver-
öffentlichen die Zahlen, wir informieren
über die Lage und die Anforderungen an
das Gesundheitssystem. Im Gegenzug er-
warten wir, dass die Bevölkerung uns ver-
traut, sich nicht von Fake News verrückt
machen lässt und unsere Empfehlungen
konsequent umsetzt.
SPIEGEL: Und wenn sie das nicht tut?
Braun: Wir werden uns das Verhalten der
Bevölkerung an diesem Wochenende an-
schauen. Der Samstag ist ein entscheiden-
der Tag, den haben wir besonders im Blick.
Am Samstag verabreden sich die Men-
schen ja traditionell miteinander, weil sie
frei haben. Aber das geht abseits der Kern-
familie derzeit nun einmal leider nicht.
Das muss jetzt eingestellt werden. Ge-
schieht das nicht, kann es passieren, dass
auch in den Bundesländern weitergehende

SPIEGEL: Herr Braun, die Zahl
der Corona- Infizierten steigt im-
mer weiter, viele Menschen hal-
ten sich nicht an die von der
Regierung beschlossenen Ein-
schränkungen. Kommt jetzt die
Ausgangssperre?
Braun: Erst mal setzen wir da-
rauf, dass die Bevölkerung die
Maßnahmen versteht und bereit
ist, ihr Sozialleben einzuschrän-
ken. Und wenn wir in Nachbar-
länder blicken, die schon Aus-
gangssperren verhängt haben,
dann wird klar: Das wäre eine
enorme zusätzliche Belastung.
Es haben ja, besonders in Städ-
ten, nur die wenigsten einen
Garten oder ein großes Grund-
stück. Deshalb rufen wir alle auf,
sich die bislang beschlossenen
Maßnahmen zu Herzen zu neh-
men und sie umzusetzen. Und
das heißt, abgesehen von der
Kernfamilie, möglichst alle sozia-
len Kontakte zu vermeiden.
SPIEGEL: Trotz aller Aufrufe wa-
ren diese Woche in öffentlichen
Parks noch immer Leute unterwegs, die
sich gemeinsam betrunken oder in Grup-
pen gepicknickt haben. Was denken Sie,
wenn Sie solche Bilder sehen?
Braun: Da müssen die Ordnungsbehörden
und die Polizei tätig werden. Solche nicht
notwendigen Versammlungen müssen auf-
gelöst werden. Das ist im Übrigen auch
jetzt schon ohne Ausgangssperre möglich.
SPIEGEL: Verstehen wir die Ansprache der
Bundeskanzlerin von dieser Woche richtig
als letzte Warnung, bevor die Ausgangs-
sperre kommt?
Braun: Es war ein eindringlicher Appell
in einer sehr ernsten Lage, wie wir sie in
unserer Lebensspanne noch nie erlebt ha-
ben. Wir als Bundesregierung arbeiten in


Das Interview führten Christoph Hickmann und
Martin Knobbe im Bundeskanzleramt.


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Coronakrise

Maßnahmen beschlossen wer-
den, obwohl wir das eigentlich
vermeiden wollen.
SPIEGEL: Hätten Sie nicht früher
härtere Maßnahmen beschlie-
ßen müssen?
Braun: Nein. Wir haben uns ja
täglich mit Virologen und Epide-
miologen abgestimmt. Und man
muss sehen, dass all diese Maß-
nahmen für die Bevölkerung
eine schwere Belastung darstel-
len. Ich glaube nicht, dass es die
Leute verstanden hätten, wenn
wir sie bei einer Fallzahl von ge-
rade mal 300 schon aufgerufen
hätten, zu Hause zu bleiben. Wir
sind jetzt in der Phase, in der die
Fallzahlen steil ansteigen. Das
müssen wir verlangsamen. Des-
halb ist die Wahl der Mittel zum
jetzigen Zeitpunkt richtig.
SPIEGEL: Die Kanzlerin ist Na-
turwissenschaftlerin, Sie selbst
sind Mediziner. Haben Sie die
Gefahr trotzdem unterschätzt?
Braun: Als wir die Situation in
Wuhan gesehen und beobachtet
haben, wie die Fallzahlen dort exponen-
tiell stiegen, waren wir sofort alarmiert
und haben frühzeitig angefangen, uns mit
den Experten auszutauschen. Deshalb ist
es uns gelungen, die Fälle von deutschen
Staatsbürgern, die aus China zurückge-
kehrt sind, gut nachzuverfolgen und sie er-
folgreich unter Quarantäne zu stellen. Die
Ausbreitung aus China gestaltete sich dann
entsprechend harmlos. Dann kam Italien
dazu und dann der Karneval im Kreis
Heinsberg. Da war sofort an klar, dass dies
die Lage auch in Deutschland grundlegend
verändert.
SPIEGEL: Südkorea scheint die Situation
recht gut im Griff zu haben. Was kann man
von dort lernen?
Braun: Auch dort gibt es strenge Ein-
schränkungen des öffentlichen Lebens.
Und die südkoreanische Bevölkerung ist

»Wir werden uns das Verhalten


der Bevölkerung an


diesem Wochenende anschauen«


SPIEGEL-GesprächDer Chef des Bundeskanzleramts, Helge Braun, 47 (CDU), über die rasant


steigenden Zahlen von Infektionen und drohende Ausgangssperren


PETER RIGAUD / DER SPIEGEL
Kanzleramtschef Braun
»Eindringlicher Appell in einer sehr ernsten Lage«
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