Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

Sohn Teo hat dann mit einem Ball ge-
spielt. Die Leute haben ihm dabei zuge-
sehen und gelacht. Eine Frau meinte:
»Schauen Sie mal, was ein spielendes
Kind für Freude bereitet.«
SPIEGEL:Gab es irgendein besonderes
Prozedere nach Ihrer Ankunft in
Deutschland?
Ludwig:Gar nicht! Wir wurden nicht
mal gefragt, woher wir kommen oder
wie es uns geht. Wir konnten einfach so
durch die Passkontrolle. Das hat uns
total überrascht.
SPIEGEL:Nun sind Sie wieder zu Hause
in Hamburg. Welche Gedanken bewegen
Sie jetzt?
Ludwig:Da sind Fragen über Fragen in
meinem Kopf. Grundsätzlich fürchte ich
mich gar nicht so sehr vor der Krankheit,
sondern eher davor, dass die Menschen
panisch werden.


Shlomo Bistritzky,42, Hamburger
Landesrabbiner

Alles ist komplizierter geworden. Shlo-
mo Bistritzky ist am Mittwochnachmit-
tag auf dem Weg zu einer Beerdigung
auf dem Jüdischen Friedhof in Hamburg.
Sie beginnt zwei Stunden später als ge-
plant, weil wegen Corona weniger Eh-
renamtliche für die rituelle Waschung
einsetzbar sind, die Älteren sollen nicht
gefährdet werden.
Ein 59-Jähriger aus der Gemeinde ist
gestorben, es ist die erste Beisetzung für
den Rabbiner, seitdem die Regierung das
öffentliche Leben in Deutschland massiv
eingeschränkt hat. Sicherheitshalber hat
sich Bistritzky beim Rabbiner des ge-
richtsmedizinischen Instituts in Jerusa-
lem erkundigt, wie zu verfahren sei, falls
der Tote am Coronavirus gestorben sei.
Aber Corona hatte der Mann nicht, sagt
Bistritzky am Autotelefon.
Tags zuvor hat seine Nichte in Israel
geheiratet, er wollte mit seiner Familie
hinfliegen, die Tickets lagen schon be-
reit. Doch dann kam das Einreiseverbot
für Deutsche, und die Hochzeit, die
für 500 Leute geplant war, musste auf
wenige reduziert werden, weil in Israel
zum Schutz vor Corona nur noch maxi-
mal zehn Menschen beieinander sein
dürfen. Die Feier fand trotzdem statt –
und die Bistritzkys waren dabei, via
Google Hangout, live per Kamera zu -
geschaltet. Auf ein Zeichen hin hätten
alle in der Videoschalte zusammen
getanzt und gesungen, drei Hochzeits-
musikanten spielten die Musik dazu.
»Es war wirklich schön«, sagt Bistritzky,
»und ich glaube, die Braut war am Ende
doch sehr glücklich.«


Katja Iken,47, SPIEGEL-Redakteurin,
über einen Trauerfall in ihrer Familie

»Das Coronavirus hat auch das Leben
meiner britischen Stiefmutter, 66, in be-
sonderer Weise verändert: Nachdem ihr
Vater mit 98 Jahren gestorben war, er -
gatterte sie am vergangenen Montag in al-
ler Eile einen Flieger, um von Frankfurt
nach Doncaster zu gelangen. Dort musste
sie ihn nahezu allein am Freitag be -
erdigen – allen Menschen über 70 wird
derzeit dringend abgeraten, sich in Ge-
sellschaft zu begeben. Ob ihr Mann (mein
Vater) und ihr ältester Sohn würden ein-
reisen können, war bis zuletzt ungewiss.
Der jüngere Sohn liegt nach einem Tirol-
Urlaub mit Grippesymptomen im Bett
und wartet auf das Corona-Testergebnis.
Wann sie selbst nach Deutschland zu-
rückkehren kann, ist noch unklar.«

Kapitel 3 :
Vom Weitermachen und

Organisieren


Anke Stein,Leiterin der JVA Berlin-Moabit

SPIEGEL:Frau Stein, gibt es unter Ihren
Gefangenen schon einen Corona-Fall?
Stein:Bisher nicht. Wir haben zwischen-
zeitlich fünf Menschen isoliert, aber bei
keinem hat sich eine Infektion bestätigt.
SPIEGEL:Beruhigt Sie das?
Stein:Natürlich ist es gut, jetzt noch
nichts zu haben. Aber alle Anstalten wis-
sen, dass es eine Frage der Zeit ist. Es
geht nur noch darum, den Zeitraum bis
zum ersten Fall zu verlängern.

SPIEGEL:Wie wollen Sie das schaffen?
Stein:Wir achten auf Hygiene und auf
Abstand. Wir sind ein Gefängnis für
Untersuchungshaft, und zwar das vollste
in ganz Berlin. Die Gefahr kommt von
außen, nicht von innen. Hier kommen
ständig neue Menschen an. Bei ihrer An-
kunft befragen wir sie und versuchen,
das Risiko einer Corona-Infektion ein -
zuschätzen. Falls nötig, kommen sie in
Quarantäne.
SPIEGEL:Das reicht?
Stein:Es gibt noch weitere Regeln. Be-
such für die Gefangenen ist auf ein Min-
destmaß beschränkt. Wir Bediensteten
betreten nur noch die unbedingt nötigen
Bereiche und klären so viel wie möglich
über Telefon und Mail, damit wir nieman-
den anstecken oder angesteckt werden.
SPIEGEL:In Italien kam es zu Aufstän-
den, es gab sogar Tote, weil Häftlinge
keinen Besuch bekommen durften.
Stein:In den italienischen Gefängnissen
kam Panik auf, weil plötzlich niemand
mehr wusste, wie es seinen geliebten Men-
schen da draußen ging. Das verhindern
wir, indem wir etwa Telefonkontakt aus
dem Haftraum erlauben. Noch sind Besu-
che möglich, wenn auch eingeschränkt.

Joana Harms,26, Einzelhandelskauffrau
aus Hamburg

»Ich arbeite seit neun Jahren im Einzel-
handel, kenne viel zu lange Schlangen bei
Silvester- und Weihnachtseinkäufen und
Torschlusspanik vor Ostern, aber dass
jetzt ein Kunde 40 Packungen Aufback-
brötchen bunkert und dabei glücklich
lächelt oder dass eine ganze Palette Klo-
papierrollen nach einer Stunde vergriffen
ist, das hat mich erschüttert. Mehl und
Zucker packen wir schon gar nicht mehr
in die Regale, weil es sich nicht lohnt.
Hamsterkäufe werden nichts, weil wir gar
nicht so schnell hinterherkommen.
Es gibt auch kein ›Danke‹ oder ›Ent-
schuldigen Sie‹, sondern nur: ›Warum ist
schon alles ausverkauft?‹. Die Antwort
ist einfach: weil ihr mehr kauft, als ihr
braucht! Die Warenlieferungen kommen
jeden Tag, es ist genug für alle da.
Mich wundert, dass trotz der panischen
Stimmung der Abstand beim Warten an
der Kasse nicht eingehalten wird. Ver -
wundert werde ich angeschaut, wenn ich
verlange, dass das Bargeld auf die Theke
gelegt werden soll, damit wir den direkten
Kontakt vermeiden. Ich habe keine Angst,
ich will nur das Risiko eindämmen, denn
zu Hause wartet meine zweijährige Toch-
ter. Um sie zu betreuen, müsste ich Urlaub
nehmen. Meinem Freund gehört ein por-
tugiesisches Restaurant. Gestern musste

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THILO RÜCKEIS

JVA-Leiterin Stein in Moabit
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