Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
er schließen. Ich bin jetzt die Hauptver -
dienerin für meine Familie.«

Markus Breuer, 48, Betreiber eines
Lebensmittelmarkts in Bornheim

»Wir bekommen täglich spürbar mehr
Anrufe von Kunden, die ihre Lebensmit-
tel geliefert bekommen möchten. Viele
sind schon älter, da kann eine Bestellung
über sieben Artikel am Telefon auch
schon mal eine halbe Stunde dauern. Da-
für haben wir nicht genügend Kapazitä-
ten, es fehlen auch Einkäufer und Fahrer.
Ich kenne aber den Betreiber eines Ver-
kehrsübungsplatzes, der schließen muss-
te. Er rief mich an und erzählte, dass er
seine Autos und Fahrtrainer gern sinnvoll
beschäftigen würde. Gemeinsam wollen
wir nun einen Lieferdienst organisieren,
der bedürftige Menschen in unserem
Umkreis mit Lebensmitteln versorgt.«


Reiner Breuer, 50, ist Bürgermeister
von Neuss

SPIEGEL:Die Landesregierung von
Nordrhein-Westfalen hat wegen der Co-
ronakrise zuletzt drei Erlasse beschlos-
sen, die Sie vor Ort umsetzen müssen.
Behalten Sie noch den Überblick?
Breuer:Schwarzer Humor hilft. Wir
sagen immer: Nach dem Erlass ist vor
dem Erlass. Spaß beiseite, die Lage ist
ernst, und wir haben leider nicht immer
Klarheit. Bei jedem Erlass muss ich wie
alle anderen 395 Kommunen in Nord-
rhein-Westfalen eine Allgemeinverfügung
schreiben und veröffentlichen, damit die
Anordnungen des Landes in den Städten
überhaupt rechtliche Wirksamkeit haben.
Ein irrer Aufwand, der Zeit kostet.
SPIEGEL:Was wäre die Alternative?
Breuer:Es gibt den einfacheren Weg
einer Rechtsverordnung der Landesregie-
rung. Würde es eine einheitliche Ver -
fügung der Regierung geben, müsste
nicht jede Gemeinde überlegen, wie sie
die täglich neuen Erlasse in eigenes Ord-
nungsrecht gießen kann.
SPIEGEL:Warum mag es die Regierung
lieber umständlich?
Breuer:Das weiß ich nicht. Ich hoffe mal
nicht, dass man die Kommunen mit die-
sem komplizierten Weg in Mithaftung
nehmen will für die finanziellen Folgen
der drastischen Maßnahmen.
SPIEGEL:Sie müssen zum Beispiel sicher-
stellen, dass niemand mehr auf Spiel- und
Bolzplätze geht. Wie machen Sie das?
Breuer:Wir müssen Leute aus der Ver-
waltung in den Außendienst schicken.
Wir werden die Spielplätze wohl mit Flat-

terband absperren und ein »Betreten ver-
boten«-Schild aufstellen. Wer sich nicht
daran hält, bekommt zur Not einen Platz-
verweis. Aber wir können nicht jeden
Ort kontrollieren, wir haben un gefähr
300 Spielplätze in Neuss. Wir setzen auf
die Eigenverantwortung der Menschen.

Niebüll,Autoverladestation

Kein »Tschüs«. Kein »Auf Wiedersehen«.
»Bleibt gesund«, lautete am Wochen -
ende auf Sylt der Abschiedsgruß. In den
ohnehin leeren Restaurants war jeder
zweite Tisch gesperrt, damit ausreichend
Abstand gewahrt blieb.
Seit Montag, 6 Uhr, wird der Erlass
der Landesregierung Schleswig-Holstein
umgesetzt, und Polizeibeamte kontrollie-
ren in Niebüll Personen in Fahrzeugen
und am Bahnhof in Zügen: Nur wer sei-
nen Erstwohnsitz auf der Insel hat, darf
passieren. Pendler und Handwerker
müssen ihre Arbeitsaufträge vorweisen.
Touristen werden abgewiesen.
Das Krankenhaus in Westerland ist für
18 000 Einwohner ausgelegt, es gibt fünf
Intensivplätze mit Beatmungsgerät. Alle
Touristen mussten die Insel verlassen,
sonst könnte das Gesundheitssystem
überfordert sein. Viele Urlauber hielten
sich nicht daran und waren am Dienstag
noch auf Sylt. Mittwoch jedoch waren
fast alle Touristen abgereist. Das Land
gab einen Erlass heraus, der denjenigen,
die das Beherbergungsgebot nicht einhal-
ten, mit Strafverfolgung drohe, erklärt
Bürgermeister Nikolas Häckel. Noch wur-
de keine Covid-19-Erkrankung registriert.

Philipp Weyand, 34, Zahnarzt in Illingen

»Ich war letzte Woche zum Skifahren
in Tirol. Deshalb habe ich meine Praxis
geschlossen. Falls ich das Virus haben
sollte – was ich nicht glaube – kann ich
niemanden anstecken. Nächste Woche
will ich wieder aufmachen, dann wer den
die Hygienemaßnahmen noch mal deut-
lich verschärft. Eine behördliche Schlie-

ßung wäre in diesen Tagen zu wünschen


  • einerseits. Dann würden das Land oder
    eine Behörde einspringen und für das,
    was ich weniger an Umsatz mache, auf-
    kommen. Wenn die Schließung nur
    empfohlen wird, bleibe ich auf meinen
    Kosten sitzen. Andererseits besteht den
    Saarländern gegen über eine Versor-
    gungspflicht. Ein Di lemma. Von anderen
    Praxen weiß ich, dass aktuell viele Termi-
    ne abgesagt werden. Einige Kolleginnen
    und Kollegen denken bereits darüber
    nach, Unterstützung für Kurzarbeit zu
    beantragen, um die Mitarbeitenden wei-
    terbezahlen zu können. Aktuell sucht
    die Kassenzahnärztliche Vereinigung
    Praxen, die freiwillig Corona-Patienten
    behandeln. Eine gute Idee, finde ich – in
    der Theorie. Für mich auf dem Land ist
    das unvorstellbar, denn aus Angst, sich
    doch noch anzustecken, würden sicher
    viele Patienten die Praxis für eine Zeit
    lang meiden.«


Bina Nöhr, 36, Modedesignerin

SPIEGEL:Wie ist die Lage?
Nöhr:Mein Mann hat eine Filmproduk-
tion, er macht Werbefilme. Er versucht
jetzt Krisenmanagement zu be treiben –
entweder mit Kurzarbeit für seine acht
Mitarbeiter oder mit eventuellen Kre -
diten. Wir rechnen damit, dass neue Um-
sätze erst einmal ausbleiben. Während-
dessen sitze ich zu Hause mit zwei klei-
nen Kindern. Meine größere Tochter
ist drei, meine kleinere noch nicht mal
ein Jahr alt. Ich versuche nebenbei zu
arbeiten. Das ist wahnsinnig schwierig.
SPIEGEL:Was belastet Sie am meisten?
Nöhr:Ich merke, wie sehr uns das alle
trifft. Einerseits denke ich, wir schaffen
das. Andererseits habe ich Existenzängs-
te. Die Firma meines Mannes ist unsere
Lebensgrundlage.
SPIEGEL:Was hilft Ihnen?
Nöhr:Mein Mann und ich stützen uns
gegenseitig. Ich bin auch froh, dass
wir uns über digitale Medien so gut mit
anderen austauschen können.
SPIEGEL:Hat die Situation also auch
Positives?
Nöhr:Wir besinnen uns wieder darauf,
worum es wirklich geht. Gesundheit
und Solidarität sind gerade das Wichtigs-
te. Ich hoffe, dieser Effekt dauert an.

Baumarktin Potsdam-Babelsberg,
Dienstagmittag

Der riesige Parkplatz ist voll. Drinnen
herrscht Hochbetrieb, Kunden lassen
Farbe abtönen, schleppen Schwerlast -

DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020 37

Coronakrise

CARSTEN REHDER / DPA

Autoverladestation Niebüll
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