Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

regale durch die Gänge, Väter schieben
Kleinkinder in lustigen Autoeinkaufs -
wagen vor sich her. Lange Schlangen an
den Kassen, in den Wagen viele Pflan-
zen, Blumenerde. Auch Montag und
Samstag sei schon »die Hölle« losgewe-
sen, sagt eine genervte Mitarbeiterin in
der Farbenabteilung.
Es gibt Gerüchte, dass sich von Mitt-
woch an nur noch 100 Leute gleichzeitig
im Markt aufhalten dürfen, Beschäftigte
mitgezählt – aber so kommt es nicht, vor-
erst. Via Twitter berichten Mitarbeiter
anderer Baumärkte von Rekordumsätzen
an mehreren Tagen in Folge, von ganzen
Familien, die zum Shoppen kommen.
Manche Verkäufer beschweren sich in
den Netzwerken über die vielen männli-
chen Kunden aus der »Hochrisikogruppe«
jenseits der 65, die sich offenkundig
bedenkenlos mit Primeln und Garten -
möbeln eindeckten.
Sie arbeite in einem Renovierungs -
discounter und verstehe nicht, schreibt
eine Nutzerin, was an Gardinen und
Tapeten so »lebensnotwendig« sei, dass
Baumärkte anders als viele andere Lä-
den geöffnet bleiben dürfen. Eine an -
dere malt sich die Probleme aus, wenn
die Kundschaft im Corona-Hausarrest
ihre neuen Schwingschleifer auspro-
biert: »Und die Hobbyhandwerker be-
völkern dann bei Unfällen die Notauf-
nahmen«, twitterte sie unter #Baumarkt
und #coronadeutschland.


Suhl, Thüringen, Zentrale Erstaufnahme
für Asylbewerber

In der Nacht zum vergangenen Samstag
wurde Quarantäne über das Lager ver-
hängt, in dem derzeit 533 Asylbewerber
untergebracht sind, nachdem sich ein
Bewohner nachweislich mit Covid-19
infiziert hatte. Daraus entwickelten sich
dramatische Szenen, so schildert es
der Chef der Landespolizeiinspektion,
Wolfgang Nicolai. 10 bis 20 vorwiegend
junge Männer hätten zunächst versucht,
über das Tor zu steigen. Dann sei damit
gedroht worden, die Erstaufnahme an -
zuzünden. Asylbewerber hätten Gully -
deckel entfernt, um zu sehen, ob durch
die Kanalisation ein Weg aus dem Lager
führt. Später hätten sich am Haupttor
etwa 30 junge Männer unter einer Fahne
der Terrororganisation »Islamischer
Staat« versammelt und erneut versucht
zu entkommen. Die Polizei sicherte
das Heim mit gut 50 Beamten. Aber
Ruhe wollte nicht einkehren.
Am Dienstag entwickelten sich Sze-
nen wie aus einem Katastrophenfilm.
Nach Angaben der Lokalzeitung »Freies


Wort« zogen zwei Hundertschaften der
Polizei, ein Sondereinsatzkommando,
Wasserwerfer, Panzer, Feuerwehr und
Rettungswagen an der Unterkunft auf,
die Beamten teils in weißen Schutz -
anzügen, Masken und Helmen. Sie nah-
men die schlimmsten Störer fest, über-
wiegend Tschetschenen und Georgier.
17 Asylbewerber wurden in eine leer
stehende Jugendarrestanstalt im thürin-
gischen Arnstadt verlegt. Nicht in Haft,
sondern in Quarantäne, wie es aus der
Erfurter Staatskanzlei heißt.

Kapitel 4 :
Vom Hoffen und Bangen

Restaurant Klinker, Hamburg

Das Klinker in Eimsbüttel gehört Claudia
Steinbauer, Aaron Hasenpusch und
Marianus von Hörsten und eröffnete vor
nicht mal einem Jahr. Nun sperrt es
erst mal zu. An Stammkunden ging die
folgende Nachricht:
»Krisen treffen. Oder auch: Hier ist
erst mal zu. Guten Tag, sagte die Krise
höflich vor zwei Wochen und machte
eine Gettofaust, nachdem sie bei uns an-
geklopft hatte. Wir verdrehten unsere
Augen ein bisschen und warfen uns die-
sen Blick zu: Was ist mit der?
Jedenfalls klopfte also die Krise und
gab sich cool und wollte sich unbedingt
mal mit uns treffen. Nee, sagten wir. Es
ist noch zu, wir machen erst ab 18 Uhr
auf, und überhaupt, wir haben zu tun,
wir probieren gerade die neuen Gerichte,
und ja, der verbrannte Weißkohl braucht
ein bisschen mehr Crunch.

Gut, dachte sich die Krise und lächel-
te, so glauben wir heute, vor sich hin.
Zählte alle Gäste, die reinkamen, tän -
zelte um die 18-Uhr-Schlange herum,
trank Champagner mit denen, die so
ab 20.30 Uhr ein bisschen warteten.
Wir verfeinerten den Weißkohl, be-
stellten Wein und Schnaps, drehten
die Musik laut und erfreuten uns jeden
verdammten Tag an uns, an den Gästen,
den Freunden, dem Laden, dieser Hei-
mat für irgendwie alle. Unbeschwerte
Tage.
Und jeden Tag Ihr alle. Ihr unschätz -
baren Geschenke. Wie Familie halt so ist.
Die Krise winkte noch ein paarmal
von draußen, wir fragten uns weiter, was
sie will, und irgendwann verzog sie sich.
Dachten wir.
Was sie aber tat – sie änderte ihren
Aggregatzustand. Sie wurde atmosphä-
risch. Sie waberte durch alle Ritzen im
Gemäuer, durch die offenen Fenster,
durch die Lüftung; sie roch ein bisschen
nach Sagrotan, sie bestimmte die Ge -
spräche, obwohl sie nicht zu fassen war.
Sie machte sich breit, heftete sich einen
Hashtag an die Brust, sie hielt uns das
Würstchen Hoffnung hin, nach dem wir
gar nicht schnappten.
Ach, dachten wir noch. Machen wir
eben zwei Wochen zu. Dann betreuen
wir tagsüber die Kinder und kochen
abends für die Nachbarschaft. Treffen
endlich die Gastrokollegen und gründen
die kulinarische Partei Deutschlands,
kurz KPD. Haha. Das Krisenklinker.
Wer, wenn nicht wir?
Nein. Auch wir nicht.
Ab heute ist zu. Mit der Kaffeemaschi-
ne an. Vielleicht kochen wir und posten,
dass man sich noch ein bisschen Essen
holen kann. Brot. Wein. Schnaps und
Amore. Toilettenpapier. Vielleicht singen
wir vom Balkon jeden Abend um 18 Uhr.
Krisen treffen. Aber nicht ins Herz.
Nicht. In. Unser. Verdammtes. Herz.
Das schlägt, das wird Wege finden. Und
Worte. We keep you updated.
Schnaps & Amore. Die Klinkers.«
Laura Backes, Susanne Beyer, Annette
Bruhns, Rafael Buschmann, Uwe Buse,
Diana Doert, Lisa Duhm, Lukas Eberle,
Ullrich Fichtner, Lothar Gorris, Annette
Großbongardt, Maik Großekathöfer,
Detlef Hacke, Dietmar Hipp, Katja Iken,
Julia Jüttner, Matthias Kirsch, Eckhard
Klein, Heike Klovert, Alexander Kühn,
Nike Laurenz, Petra Maier, Marie-Julie
May, Joachim Mohr, Martin U. Müller,
Timofey Neshitov, Dialika Neufeld, Thilo
Neumann, Frank Patalong, Katharina
Graça Peters, Bernhard Riedmann,
Marcel Rosenbach, Hilmar Schmundt,
Janko Tietz, Andreas Wassermann,
Alfred Weinzierl, Antje Windmann,
Steffen Winter, Christoph Winterbach

38 DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020


Coronakrise

ELISSAVET PATRIKIOU

Restaurantbesitzer Hörsten,
Hasenpusch, Steinbauer
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