Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

SPIEGEL:Herr Kühnert, wann waren Sie
zuletzt im Fußballstadion?
Kühnert: Am 9. März. Ich habe das vor-
erst letzte Publikumsspiel im deutschen
Profibetrieb gesehen: Stuttgart gegen Bie-
lefeld. Da wurde die Situation noch anders
eingeschätzt, auch von mir. Das Stadion
war fast ausverkauft, 54 000 Zuschauer.
Aus heutiger Sicht: blanker Irrsinn.
SPIEGEL:Wie hat sich Ihr Alltag in der
Coronakrise verändert?
Kühnert:Normalerweise ist der Kalender
randvoll, und ich reise viel, jetzt nicht
mehr. Alles läuft über Telefon- und Video-
konferenzen. Und ich lerne gerade meine
Wohnung neu kennen.
SPIEGEL:Was sagt Ihnen die Krise über
die globalisierte Welt?
Kühnert:Die Krise bringt uns zu der wich-
tigen Frage: Was ist eigentlich systemrele-
vant? In der Finanzkrise 2008 und 2009
haben alle auf Banken geschaut. Jetzt wird
klar: Es geht auch um Pflegekräfte, medi-
zinisches Personal und Menschen, die im
Supermarkt an der Kasse sitzen. Sie halten
den Laden am Laufen. Sie sind unbestreit-
bar systemrelevant.
SPIEGEL:Wäre Corona weniger verhee-
rend, wenn unser Wirtschaftssystem demo -
kratischer Sozialismus hieße?
Kühnert:Das Virus wäre genauso gefähr-
lich. Es stellt sich aber die Frage, wie viel
besser unser Gesundheitssystem dastehen
würde, wenn es nicht schleichend priva -
tisiert und Kosten auf den Einzelnen ab-
gewälzt worden wären. Man muss kein
Sozialist sein, um zu erkennen, dass das
Gesundheitswesen kein renditeorientier-
ter Markt sein sollte, sondern Teil des
Sozialsystems. Es ist schwer erträglich,
dass Krankenhäuser geschlossen werden,
weil sie keine schwarzen Zahlen schreiben.
SPIEGEL:Die Betreiber privater Kranken-
häuser sagen, dass der Wettbewerb das
Gesundheitssystem besser gemacht habe.
Kühnert:In der Krise offenbart sich die
Belastungsfähigkeit eines Systems. Und
was sehen wir? Die Bundesregierung stellt
richtigerweise Kompensationszahlungen
in Aussicht, weil das Wettbewerbssystem
in der Krise nichts regelt. In diesen Tagen
geht es um die Frage: Wie viel Kapazität
haben die Krankenhäuser? Gibt es genü-
gend Betten und Personal? Und nicht um
die Frage: Was ist profitabel?


SPIEGEL:Welche Schuld geben Sie dem
globalisierten Kapitalismus?
Kühnert:Er beschleunigt, dass unser Ver-
ständnis von Gemeinwohl schwindet. Es
gibt keine klare Trennlinie zwischen Märk-
ten für Luxusartikel und der Bereitstellung
essenziell notwendiger Produkte und
Dienstleistungen. Die Gesundheitsversor-
gung steht da mit an erster Stelle. In der
jetzigen Krise zeigen sich die Auswüchse
eines ungezähmten Marktes – zum Bei-
spiel wenn medizinisches Personal nicht
mehr an Atemschutzmasken kommt.
SPIEGEL:In Thüringen produziert eine
Matratzenfirma jetzt Atemschutzmasken.
Die Wirtschaft ist agiler als der Staat.
Kühnert:Das ist Notfallbewältigung. Vor-
sorge wäre beruhigender. Leider herrscht
in weiten Teilen unseres Zusammenlebens
ein Zwang zur kompletten Verwertbarkeit.
Nicht nur bei Materialien. Manche Unter-
nehmen haben Gesundheitsprämien für
Menschen ausgelobt, die sich nicht krank-
melden. Ein Anreiz, mit der eigenen Ge-
sundheit zu spielen. Das ist pervers. Da
ist etwas ins Rutschen gekommen. Die
Menschen haben das Gefühl: Ich muss
immer verfügbar sein. Solche Prämien
gehören verboten.
SPIEGEL:Was muss sich ändern?
Kühnert:Zunächst einmal müssen wir
diese Krise bewältigen, das wird dauern.
Danach müssen wir klären: Was sind ei-
gentlich die Schlüsselindustrien unserer
Zeit? Vielleicht sind es nicht mehr nur die
großen Industrien, sondern jene Menschen
und Einrichtungen, die sich um Gesund-
heit kümmern, um den Transport, um die
Kinderbetreuung und unsere IT-Systeme.
Diese Bevölkerungsgruppen sind system-
relevant. Wir müssen sie besser absichern.
Nicht nur, aber auch bei der Entlohnung.
SPIEGEL:Worüber wollen Sie denn kon-
kret reden, wenn alles vorbei ist?
Kühnert:Sensibles, medizinisches Mate -
rial oder die Entwicklung dringend benö-
tigter Impfstoffe darf nicht allein in den
Händen privat geführter Unternehmen lie-
gen. Beim Impfstoffhersteller CureVac hat
Dietmar Hopp als Hauptanteilseigner
jüngst angeblich ein verkapptes Übernah-
meangebot aus den USA zurückgewiesen.
Das ist gut. Mir bereitet es trotzdem Un-
behagen, von der Charakterfestigkeit ein-
zelner Kapitaleigentümer abhängig zu sein.

Da könnte auch einer sitzen, der reine
Gewinninteressen im Kopf hat oder eine
politische Agenda verfolgt. Bei so sensibler
Infrastruktur müssen wir über demokrati-
sche Kontrolle sprechen. Sei es über eine
staatliche Beteiligung an Firmen, die solche
Stoffe herstellen, oder über stärkere öffent-
liche Forschung und Entwicklung.
SPIEGEL:Für Ihren Ruf nach Vergesell-
schaftung sind Sie scharf kritisiert worden.
Jetzt rufen alle nach dem Staat. Fühlen Sie
sich bestätigt?
Kühnert:Nein, weil wir heute unter an -
deren Vorzeichen diskutieren. In meinem
Interview in der »Zeit« ging es um eine
Utopie, wie man sich eine Gesellschaft vor-
stellen könnte. Wortgleich würde ich das
Interview in diesen Tagen vielleicht nicht
noch einmal so geben. Statt über BMW
reden wir heute über das Gesundheits -
system. Die aktuelle Diskussion ist nicht
theoretisch, sondern praktisch.
SPIEGEL:Sie haben der Kritik damals
nicht nachgegeben. »25 Jahre neoliberale
Beschallung« hätten ihre Spuren hinter -
lassen. Was wollen Sie verändern?
Kühnert:Die Zeit des schleichenden Neo-
liberalismus hat ein Gefühl der Unsicher-
heit hinterlassen. Wir wissen nicht, ob
wir uns in kritischen Situationen darauf
verlassen können, dass die Gesellschaft
Schutzschirme organisiert. Damit meine
ich einen Schutzschirm für den Alltag:
mobil sein können, ein bezahlbares Dach
über dem Kopf haben, eine Gesundheits-
versorgung auch im Krisenfall. Wir brau-
chen eine Diskussion darüber, was in un-
serem Zusammenleben so schützenswert
ist, dass wir es den Mechanismen des
Marktes wieder entziehen. Unser politi-
sches System bietet dafür vielfältige Mög-
lichkeiten. Wenn man nach Covid-19 auch
mit Konservativen offener darüber reden
kann, dann gilt: besser spät als nie.
SPIEGEL:Sie haben Angela Merkel in der
Vergangenheit »Führungslosigkeit« vor -
geworfen. Wie macht sie das gerade in der
Coronakrise?
Kühnert:Ich hätte mir früher öffentliche
Äußerungen gewünscht. Andere Staats-
und Regierungschefs haben wichtige Sig-
nale frühzeitig selbst gesendet.
SPIEGEL:Wen meinen Sie?
Kühnert:Emmanuel Macron zum Bei-
spiel. Der französische Präsident hat ge-

DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020 41


Deutschland

»Das ist pervers«


SPIEGEL-GesprächTrägt der Kapitalismus Schuld an der Schwäche des Gesundheitssystems?


SPD-Vize Kevin Kühnert, 30, fordert eine staatliche Kontrolle
über Medizinfirmen und kritisiert das Krisenmanagement von Angela Merkel.
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