Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

sagt, dass die Gesundheit nicht Privatisie-
rungen zum Opfer fallen darf. Wir werden
Angela Merkel nach 15 Jahren Kanzler-
schaft aber nicht mehr ändern. Es gibt Mo-
mente, in denen schätze ich sie dafür, wie
vornehm sie kommuniziert, wenn andere
breitbeinig auftreten. In dieser Krise hätte
ich mir mehr Ansagen gewünscht. Es war
aber nicht entscheidend für die Entwick-
lungen der letzten Tage.
SPIEGEL:Wer könnte es in der SPD besser?
Kühnert:Man sollte Politiker nicht nur in
der Krise betrachten. Man bewirbt sich ja
bei einer Bundestagswahl nicht, um Kopf
des örtlichen Katastrophenschutzes zu
sein, sondern um ein Land mit 83 Millio-
nen Menschen zu regieren. Und wenn ich
das als Maßstab anlege, dann glaube ich:
Beim Gestalten der Zukunft können es
einige besser als Merkel. Das spürt man ja
auch in der Union: Es gibt in Teilen eine
Sehnsucht nach dem Ende ihres abwarten-
den Politikstils.
SPIEGEL:Wünschen Sie sich etwa Fried-
rich Merz als Merkels Nachfolger?
Kühnert:Die SPD hat zuletzt in so vielen
Themen Klarheit hergestellt, dass sie sich
auch gegenüber Armin Laschets CDU
nicht verstecken müsste. Der hat zwar den
angenehm salbungsvollen Auftritt eines
Kirchentagspräsidenten, aber das heißt
nicht, dass sein Kurs mit unserer Pro-
grammatik verwechselbar wäre. Das ist
von höherem Mindestlohn bis Investitions-
offensive nicht der Fall. Und das ist gut,
denn der Hauptwettbewerb muss zwi-
schen Union und SPD stattfinden.
SPIEGEL:Finanzminister Olaf Scholz wird
derzeit von vielen als Krisenmanager ge-
schätzt. Kann es sich die SPD leisten, ihn
nicht zum Kanzlerkandidaten zu machen?
Kühnert:Er macht seinen Job in diesen
Tagen einfach verdammt gut. Wir alle kön-
nen froh sein, dass mit Olaf Scholz ein
Sozialdemokrat Finanzminister ist, Sicher-
heit ausstrahlt und nicht aus ideologischen
Gründen mit dem Geld knausert. Was die
Kanzlerkandidatur angeht: Wir sprechen
in diesen Tagen von einem Lockdown des
öffentlichen Lebens. Auch in der K-Frage
der SPD wäre jetzt erst mal ein Lockdown
angebracht.
SPIEGEL:Sie haben gefordert, dass die
Entscheidung noch in diesem Jahr fallen
soll.
Kühnert:Das war vor der großen Corona-
Welle. Wir müssen jetzt abwarten, wie
lange die Krise akut dauert. Sobald das ab-
flacht, können wir weiterreden. Wir werden
aber nichts künstlich in die Länge ziehen
oder gar naiv sein. Sollte Merz CDU-Vor-
sitzender werden, dann weiß schließlich
auch kein Mensch, wann wir den nächsten
Bundestag wählen. Einen Parteichef Fried-
rich Merz und eine Kanzlerin Angela Mer-
kel kann ich mir jedenfalls für die Dauer
eines Jahres noch nicht so recht vorstellen.


Die hängen ja doch sehr in ihrer schwieri-
gen Vergangenheit fest.
SPIEGEL:Die neuen SPD-Vorsitzenden
Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans
wirken schwach. Haben Sie auf das falsche
Team gesetzt?
Kühnert:Nein. Die mehr als 110 000 Mit-
glieder, die für die beiden gestimmt haben,
haben das nicht aus einer Laune heraus
getan. Esken und Walter-Borjans sind eine
eidesstattliche Versicherung für die neue
Klarheit der SPD, die vor ihnen begonnen
hat und mit ihnen weitergeht. Zum Bei-
spiel mit der Abkehr von Hartz IV und
dem Bekenntnis zu einem investierenden
Staat. Aber es dauert, bis sich das rum-
spricht. Dafür brauchen wir auch Perso-
nen, die nicht mit der jüngeren Vergangen-
heit verbunden werden.
SPIEGEL:Ist es für Sie als heimlichen Vor-
sitzenden nicht auch von Vorteil, zwei
schwache Parteivorsitzende zu haben?
Kühnert:Danke für die Blumen, aber ich
bin weder heimlicher noch unheimlicher
Vorsitzender. Ich habe Interesse am Erfolg

der SPD und ihrer Ideen und arbeite
grundsätzlich nicht gegen Parteivorsitzen-
de, zumal die diesen Erfolg ja auch wollen.
Wir alle müssen uns sicher noch besser ab-
stimmen. Aber als Parteispitze repräsen-
tieren wir die Breite der SPD und werden
daher von Mitgliedern stärker akzeptiert,
als das früher der Fall war. Das Misstrauen
ist gesunken. Das beflügelt alle.
SPIEGEL:Sollte die SPD im nächsten Wahl-
kampf für ein linkes Bündnis eintreten?
Kühnert:Die Zeit der Großen Koalition
muss vorbei sein, sie war es schon beim
letzten Mal.
SPIEGEL:Wären Sie auch bereit, als Junior -
partner in ein grün-rot-rotes Bündnis zu
gehen?
Kühnert:Ich glaube nicht, dass die Mehr-
heit in Zeiten großer Umbrüche wirklich
Robert Habeck im Kanzleramt sehen will.
SPIEGEL:Die Linkspartei fiel bei ihrer
Strategiekonferenz zuletzt mit Antipar -
lamentarismus und durch Erschießungs-
fantasien auf. Hat Sie das geschockt?

* Lydia Rosenfelder, Markus Feldenkirchen und
Chris tian Teevs im Willy-Brandt-Haus in Berlin.

Kühnert:Als Juso kenne ich aus zahllosen
Bündnissen viele auch absurde Spielarten,
die es im selbst erklärten linken Spektrum
gibt. Man darf nicht jede irrlichternde
Äußerung auf einer Veranstaltung mit der
Partei als solcher verwechseln. Trotzdem
darf so etwas nicht passieren, und es darf
vor allem nicht so stehen bleiben.
SPIEGEL:Parteichef Bernd Riexinger rea-
gierte erst nach öffentlicher Kritik.
Kühnert:Ich will gern linke Mehrheiten
realisieren. Deswegen bin ich umso be-
drückter, wenn so fahrig mit dieser Mög-
lichkeit umgegangen wird. Der Linken
läuft die Zeit davon, manchen ausufernden
Irrsinn zu stoppen. Und die sogenannte
Strategiekonferenz, auf der diese Äuße-
rungen getroffen wurden, wäre ein solcher
Zeitpunkt gewesen. Stattdessen lachen
sich jetzt andere ins Fäustchen.
SPIEGEL:Sigmar Gabriel hat Sie als großes
Talent bezeichnet, rät Ihnen aber, Ihren
Universitätsabschluss zu machen und zu
arbeiten. Holen Sie das noch nach?
Kühnert:Arbeiten gehe ich jeden Tag.
Was den Abschluss angeht: Das ist das
Ziel.
SPIEGEL:Weil Gabriel recht hat oder Sie
nicht ständig ermahnt werden wollen?
Kühnert:Weil es der Anspruch an mich
selbst ist. Ich schulde aber niemandem Re-
chenschaft. Als Juso-Chef arbeite ich sie-
ben Tage die Woche, seit mehr als zwei
Jahren. Ich habe für die SPD in den ver-
gangenen zwei Jahren 600 Veranstaltun-
gen gemacht, mehr als die allermeisten.
Der Vorwurf läuft ins Leere. Seit ich Abi
gemacht habe, verdiene ich mein eigenes
Geld und liege niemandem auf der Tasche.
Der Verweis auf meine Ausbildung ist ein
vorgeschobener Angriffspunkt für Leute,
die eigentlich eine inhaltliche Auseinan-
dersetzung mit mir führen wollen und viel-
leicht auch sollten.
SPIEGEL:Wovon leben Sie?
Kühnert:Ich bekomme wie meine Vorgän-
ger als Juso-Vorsitzende eine Aufwands-
entschädigung. In der Vergangenheit habe
ich im Callcenter und in Abgeordneten -
büros gearbeitet. Das geht mit der aktuel-
len Arbeitsbelastung nicht mehr. Am Ende
kommt dabei deutlich weniger heraus als
ein deutsches Durchschnittsgehalt, was
nicht schlimm ist.
SPIEGEL:2018 haben Sie gesagt, wer in
einer 14-Prozent-Partei eine Karriere -
planung mache, habe »den Schuss nicht
gehört«. Gilt das noch?
Kühnert:Ja. Auch bei aktuell 16 Prozent.
SPIEGEL:Aber Sie wollen als Abgeord -
neter in den Bundestag?
Kühnert:Wer Veränderung will, sollte be-
reit sein, dafür Verantwortung zu überneh-
men. Also werde ich mich bewerben, ja.
SPIEGEL:Herr Kühnert, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.

42 DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020


Deutschland

GENE GLOVER / DER SPIEGEL
Kühnert, SPIEGEL-Redakteure*
»Was ist eigentlich systemrelevant?«
Free download pdf