Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
Die Handelsketten tauschen sich eng
mit dem Bundesverkehrsministerium aus;
das berichtet täglich ans Kanzleramt. Eine
Reihe von Verordnungen hat man ange-
passt: Das Sonntagsfahrverbot wurde ge-
lockert, die Lenk- und Ruhezeiten der
Lkw-Fahrer wurden vorübergehend aus-
gesetzt. Im Zweifel müssen Lkw womög-
lich auch nicht gleich zum TÜV, wenn die
Plakette abgelaufen ist, sondern dürfen
weiterrollen.
Kritisch ist die Lage indes an den Gren-
zen. Bundesverkehrsminister Andreas
Scheuer (CSU) verabredete deshalb mit
seinen europäischen Kollegen, Lkw mit
Lebensmitteln, Medizin oder Treibstoff
nicht mehr langwierig zu kontrollieren.
Eigene Fahrspuren für sie sollen so schnell
wie möglich eingerichtet werden. Freie
Fahrt für Essen und Arznei.
Ein anderes Problem ist damit noch nicht
gelöst. Viele Arbeiter etwa in Schlachthöfen

K


nut Sander muss jetzt Nachschub
organisieren für alles, was die Deut-
schen in diesen Tagen horten: Mais-
und Tomatenkonserven aus Italien oder
Holland, Klopapier aus Tschechien oder
einem der Werke des schwedischen Essity-
Konzerns. Außerdem Katzen- und Hunde -
futter, »denn die Leute haben auch Angst
um die Versorgung ihrer Tiere«.
Sander ist Chef der Spedition Robert
Kukla in München. 60 000 Lkw-Ladun-
gen bewegt er im Jahr, vor allem Lebens-
mittel. Kukla organisiert die Touren von
Herstellern in die Zentrallager der Händler,
europaweit, Tag und Nacht. Gerade hat
das Unternehmen 120 Extraladungen für
einen Discounter abgewickelt, um die
Regale nach Hamsterkäufen wieder zu fül-
len. »Wir machen 30 bis 50 Prozent mehr
Touren als sonst«, sagt Sander. Die Lager
der Produzenten seien voll; der Nach-
schub stocke trotzdem. Dass die Grenzen
Corona-bedingt dicht sind, bringt auch
die Supermärkte in Nöte. Lkw-Fahrer, die
zwischen Deutschland und Polen verkeh-
ren, stecken stundenlang im Stau.
Die Versorgung sei gesichert, sagte die
Kanzlerin am Mittwoch in ihrer TV-
Ansprache. Das bekräftigten tags darauf
fast wortgleich Edeka, Rewe, Lidl, Aldi
und weitere Ketten in einer gemeinsam
mit dem Handelsverband Deutschland
geschalteten Zeitungsanzeige. Die Kun-
den sollten jedoch »bedarfsgerecht« ein-
kaufen, hieß es darin. Es war ein Ver -
sprechen, gekoppelt an einen Appell.
Einlösen lässt es sich nur durch einen
gemeinsamen Kraftakt von Handel und
Politik – und indem Wettbewerber zu
Partnern werden.
Bislang verbietet das Gesetz gegen
Wettbewerbsbeschränkungen den Händ-
lern Absprachen. Das könnte sich jedoch
ändern, wie Bundeswirtschaftsminister
Peter Altmaier (CDU) dem SPIEGELsagte:
»Wenn Lebensmittelindustrie und Einzel-
handel kooperieren, um die Versorgung
der Bürger in der Krise sicherzustellen,
dann werden wir Fragen des Kartellrechts
mit den Kartellbehörden aufnehmen und
eine Lösung erzielen.« Nichts scheint in
diesen Zeiten undenkbar.


43

Coronakrise

oder Lebensmittelfabriken kommen aus
Osteuropa, und die gehen jetzt. Baden-
Württembergs Verkehrsminister Winfried
Hermann (Grüne) sagt, die Grenzen seien
so eilig geschlossen worden, dass nun »alle
Verantwortlichen überrascht sind, wie viele
Folgen das im Einzelnen nach sich zieht«.
Am Mittwoch ereilte die deutschen Ein-
zelhändler aus Spanien ein Warnruf vom
Großhändler Iberiana Frucht, bei dem vie-
le von ihnen Obst und Gemüse beziehen.
Das Unternehmen beklagte einen erheb
lichen Fahrermangel im internationalen
Transport wegen der geschlossenen Gren-
zen. »Viele Fahrer möchten kein Risiko
eingehen und bleiben lieber zu Hause.«
Sie wüssten nicht, ob sie an ihren oft fer-
nen Zielort gelangten und wieder zurück.
Die Hauptsorge der Händler gilt der
Ernte. Auf den Feldern Spaniens und Ita-
liens pflücken und sammeln nun drei Mit-
arbeiter, wo bislang zehn zugange waren.
Sie müssen, so die neue Vorschrift, ge-
trennt zum Einsatzort fahren, nur haben
die wenigsten ein Auto. Hierzulande baten
Bauern via Facebook um Hilfe beim Spar-
gelstechen oder der Erdbeerernte, weil
Saisonarbeiter an der Grenze nur noch
stark eingeschränkt Einlass erhalten.
Für ganz harte Zeiten ist Deutschland
gewappnet. Das Bundesministerium für
Ernährung und Landwirtschaft hält an ver-
schiedenen Orten des Landes Mengen an
Getreide, Erbsen, Reis, Linsen und Kon-
densmilch vor. Als Reserve für mögliche
Krisen, sei es ein Verteidigungsfall, eine
Seuche oder eine Umweltkatastrophe. Die
Bevölkerung ließe sich damit wochenlang
versorgen. Benötigt wurde der Notvorrat
in Deutschland bislang nie. Und das werde,
so eine Sprecherin des Ministeriums, ver-
mutlich auch so bleiben.
Kristina Gnirke, Nils Klawitter, Alexander
Kühn, Michaela Schießl, Gerald Traufetter,
Carolin Wahnbaeck

Freie Fahrt


fürs Essen


VersorgungDie Lager vieler
Hersteller sind voll, der
Nachschub für die Supermärkte
stockt trotzdem. Politik und
Händler suchen nach Lösungen.

T.BARTILLA / SNAPSHOT / FUTURE IMAGE
Obst- und Gemüseabteilung in Rewe-Markt: Lastwagen stecken stundenlang im Stau

Früchte knapp, Fleisch satt
Womit sich Deutschland bei Agrar-
produkten selbst versorgen kann, 2018

Quellen: »Handelsblatt«, BMEL *2018/2019

99

14%

15

35

72

90

Obst

Hartweizen/Nudeln

Gemüse*

Eier

Roggen*

Geflügelfleisch

Butter

Milch

Weizen*

Schweinefleisch

Kartoffeln*

Ware über 100 %
geht in den Export

100

111

119

128

117
Free download pdf