Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

A


m 8. März wäre Schlimmeres wo-
möglich noch zu verhindern gewe-
sen. Es war der Tag, an dem Philip-
pa Siering Kopfschmerzen bekam, hustete
und sich schlapp fühlte. Zwei Tage zuvor
hatte sie ein Krankenwagen von Ischgl
nach Hamburg gebracht. Sie begleitete
ihren Vater, der sich auf der Skipiste einen
Unterschenkel gebrochen hatte.
Zu diesem Zeitpunkt galt die österrei-
chische Partyhochburg bereits als Risiko-
gebiet – allerdings nur in Island. Am 5.
März hatte die Regierung in Reykjavík
Ischgl zum Corona-Hotspot erklärt. Meh-
rere Isländer hatten dort ihre Skiferien ver-
bracht und waren infiziert zurückgekehrt.
Der Sanitätsdirektor des Landes Tirol
konterte die isländische Ferndiagnose mit
einer Verlautbarung, die im Rückblick
inkompetent und zynisch anmutet: »Aus
medizinischer Sicht« erscheine es »wenig


wahrscheinlich, dass es in Tirol zu Anste-
ckungen gekommen ist«.
Und so fuhren Philippa und ihr Vater,
ohne jede Kontrolle, ohne Test und Pro-
blembewusstsein im Krankenwagen Rich-
tung Norden. Von den Corona-Fällen in
Island erfuhren sie nichts. Arglos traf sich
die 17-Jährige am nächsten Tag mit Freun-
dinnen zum Bummeln in der Innenstadt.
Als die junge Frau am 8. März schließ-
lich die ersten Symptome ihrer Corona-In-
fektion bemerkte, zählte der Hamburger
Senat in seiner täglichen »Information
zum aktuellen Stand Covid-19« genau 17
Infizierte in der Hansestadt. Die Lage habe
sich in den letzten Tagen nicht verändert.
Alle bekannten Fälle seien »derzeit gut ab-
grenz- und nachverfolgbar«, hieß es.
Es vergingen acht weitere Tage, bis
auch Philippa als Covid-19-Patientin er-
fasst wurde. Acht Tage, an denen sie, ih -

re Freundinnen und Eltern andere anste-
cken konnten. Acht Tage, in denen deut-
lich wurde, dass das Mantra des Senats,
die Fälle seien »abgrenz- und nachver -
folgbar«, nicht mehr war als ein frommer
Wunsch.
Am 10. März hatte sich die Zahl der
»Fälle mit positiver Covid-19-Infektion«
in Hamburg bereits mehr als verdoppelt:
35 Patienten. Von Island oder Ischgl war
in der Senatsinformation noch immer
keine Rede. Auch im Robert Koch-Institut
(RKI) hatte anscheinend niemand die Ti-
roler Gaudi-Gemeinde auf dem Schirm.
Die Norweger reagierten schneller. Nach
der Alarmmeldung aus Island baten die
Behörden am 7. März, einem Samstag,
eine Gruppe von Ischgl-Heimkehrern zum
Corona-Test. Schon am nächsten Tag mel-
dete Oslo: 491 der landesweit 1198 Infi-
zierten waren zum Skifahren in Österreich
gewesen, die meisten von ihnen in Ischgl
und Umgebung.
Ebenfalls am 7. März machte Österreich
den ersten bestätigten Corona-Fall in der
1600-Einwohner-Gemeinde bekannt. Es
war ein Barkeeper der Après-Ski-Bar Kitz-
loch, in der es für gewöhnlich so voll und
laut ist, dass sich die Bedienungen mit
Trillerpfeifen den Weg durch die Menge
bahnen.

Coronakrise

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Aus Gaudi wurde GAU


Ischgl Österreichs Party-Skiort gilt als Corona-Hotspot.
Hunderte infizierte Urlauber trugen bei ihrer Rückkehr das Virus
in ihr Heimatland. Wie es dazu kommen konnte.

ROLAND MÜHLANGER / IMAGO IMAGES
Après-Ski-Location Schatzi Bar in Ischgl: »Die Gier hat die Verantwortung für die Gesundheit besiegt«
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