Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
Ischgl

dringend um Prüfung gebeten, ob die Re-
gion als Risikogebiet eingestuft werden
müsse.
Stephanie Siering wählte auch an die-
sem Tag Dutzende Male die Hotline-Num-
mer 116 117. Ohne Erfolg.
Familie M. wiederum drang zumindest
im Gesundheitsamt durch. Sie wollte wis-
sen, was die vor zwei Tagen gemachten
Tests ergeben hatten. Ein Beamter sagte
ihnen am Telefon, wie sie sich erinnern:
Er könne sie in den Akten nicht finden,
aber sie sollten davon ausgehen, dass sie
infiziert seien.
Eine halbe Stunde später gab ein ande-
rer Mitarbeiter des Gesundheitsamts Ent-
warnung. Der Kollege habe sich geirrt.
Man könne nicht sagen, ob sie infiziert
seien. Ihre Proben seien leider verlo-
ren gegangen. Ein neuer Test musste
her, am nächsten Tag im Gesund-
heitsamt, mit Ergebnisgarantie. Fa-
milie M. hatte endlich Gewissheit.
Keiner war infiziert.
Freitag, der 13. März, wurde
auch für Philippa und ihre
Mutter ein Glückstag. Stepha-
nie Siering erreichte endlich ei-
nen Mitarbeiter der Hotline. Ischgl war
dort inzwischen ein Thema. Um 18 Uhr
testeten Ärzte ihre Tochter. Danach
herrschte wieder Ruhe. Das Wochenende
ist in den Ämtern offenbar selbst in Zei-
ten einer weltweiten Pandemie heilig.
Immerhin: In Österreich und im Robert
Koch-Institut geriet einiges in Bewegung.
Die österreichische Bundesregierung er-
klärte Ischgl und das Paznauntal zum Ri-
sikogebiet und verhängte eine Quarantäne.
Dem RKI galt ganz Tirol nun als Risiko-
gebiet. Endlich. Acht Tage nach den Is -
ländern, sechs Tage nach den Norwegern,
drei Tage nach den Dänen.

Dann wurde öffentlich: 15 Menschen im
Umfeld des Barkeepers waren mit dem
neuen Virus infiziert. Die Landesregierung
von Tirol räumte erstmals ein, es könne
»nicht ausgeschlossen werden, dass es eine
Verbindung zu einem Teil der in Island
posi tiv getesteten Personen gibt«.
Dienstag, 10. März, 11 Uhr: In Kopenha -
gen verkündete die dänische Regierungs-
chefin Mette Frederiksen einen Stopp des
Flugverkehrs aus »roten Gebieten«. Zu
den als besonders ansteckend und deshalb
rot markierten Regionen gehörten die
Provinz Hubei in China, Iran, die Provinz
Gyeongsangbuk-do in Südkorea – und das
Skigebiet um Ischgl. Von den 156 Dänen,
die zu diesem Zeitpunkt als infiziert galten,
waren 60 zum Skifahren und Feiern in
dem Ort.
Am selben Tag erfuhr Frau M. aus Ham-
burg, die mit ihren beiden Söhnen Anfang
März Freunde in Ischgl besucht hatte, dass
eine der Frauen, die sie dort getroffen hat-
te, positiv auf Covid-19 getestet worden
war. Die infizierte Bekannte arbeitet im
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf,
weshalb die Alarmkette funktionierte.
Noch in der Nacht kam der Kassenärztli-
che Notdienst, nahm Proben und bat die
Familie M., die nächsten zwei Wochen frei-
willig in häuslicher Isolierung zu bleiben.
Das Gesundheitsamt werde sich melden,
wenn die Testergebnisse vorlägen.
So langsam dämmerte auch dem Ham-
burger Senat, dass es mit Ischgl-Heimkeh-
rern ein Problem geben könnte: 19 Fälle
seien seit dem Vortag hinzugekommen,
hieß es am 11. März. Bei allen bestehe »ein
Zusammenhang mit Reisen aus einem
vom RKI definierten Risikogebiet bzw. ei-
nem benachbarten Skigebiet in Ischgl in
Österreich, das noch nicht als Risi-
kogebiet eingestuft ist«.
Doch der Optimismus der Be-
hörden ließ sich nur schwer bre-
chen. Trotz steigender Infek -
tionszahlen gelte »nach wie vor,
dass die Fälle gut abgrenz- und
grundsätzlich nachverfolgbar
sind«.
Philippas Mutter Stephanie
Siering, die via Facebook von
der Ischgl-Spur erfahren hatte,
war weniger zuversichtlich. Immer und
immer wieder rief sie die von der Ge-
sundheitsbehörde empfohlene Hotline-
Nummer 116 117 an. Vergebens, es war
ständig besetzt.
Donnerstag, 12. März: Dänemark mel-
dete 139 positiv auf Covid-19 getestete
Österreich-Heimkehrer. In Hamburg wich
die hanseatische Gelassenheit einer stärker
werdenden Sorge. Der Senat erklärte: Ein
»bekanntes Cluster bezieht sich auf eine
benennbare Gruppe von Reiserückkeh-
rern aus einem Skigebiet im österreichi -
schen Ischgl«. Hamburg habe den Bund


DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020 45

Die Wiener Tageszeitung »Der Stan-
dard« kommentierte: »Die Gier hat die
Verantwortung für die Gesundheit der Bür-
ger und der Gäste besiegt. Man wollte die-
se letzte ›starke Touristenwoche‹ noch
›mitnehmen‹, auf dass die Kassen der Lift-
betreiber und Hoteliers klingeln.«
Die Verantwortlichen in Tirol fühlten
sich zu Unrecht an den Pranger gestellt.
»Die Behörden haben alles richtig ge-
macht«, so Gesundheitslandesrat Bern-
hard Tilg. Die »Gesamtvorgangsweise war
richtig«, sagte er und dementierte, was
niemand behauptet hatte. Ausländische
Medien hätten den Eindruck erweckt, das
Coronavirus sei in Ischgl entstanden. Das
sei »aber nicht so« gewesen, sagte Tilg.
Es war nicht das erste Mal, dass im öster-
reichischen Skizirkus die Gaudi zum GAU
wurde. Und nicht das einzige Mal, dass
sich hinterher alle wegducken. Am 11. No-
vember 2000 verbrannten und erstickten
in Kaprun 155 Skifahrer in einem Tunnel
auf dem Weg zum Kitzsteinhorn. Der Be-
treiber der Gletscherbahn hatte Fehler
über Fehler gemacht. Verurteilt wurde
er nicht – und auch sonst niemand. Der
Richter sagte bei der Urteilsverkündung,
»Gott« habe »für einige Minuten im Tun-
nel das Licht ausgemacht«. Im Nebenberuf
war der Jurist übrigens Fremdenführer in
Salzburg.
Philippa Siering war der liebe Gott gnä-
diger. Sie hat nur leichte Symptome, es
geht ihr gut. Dass sie tatsächlich an Covid-
19 erkrankt ist, teilte ihr das Gesundheits-
amt am Montagmittag mit. Zehn Tage
nach ihrer Abreise aus Ischgl.
Am selben Tag durften Urlauber die Ti-
roler Skiregion verlassen. Sie wurden an-
gewiesen, direkt nach Hause zu fahren und
sich in Quarantäne zu begeben. Es gab
sogar ein Formular, in dem sie versichern
mussten, die Order zu befolgen. Allerdings
kontrollierte das niemand.
In Hamburg bekam die negativ geteste-
te Familie M. am Mittwoch dieser Woche
Post vom Gesundheitsamt. Es war die
offizielle Quarantäneanordnung. Schließ-
lich waren sie Rückkehrer aus dem Risiko -
gebiet Tirol. Ordnung muss sein.
Hamburg ist inzwischen das Epizen-
trum der Corona-Pandemie in Deutsch-
land, wie das RKI feststellte. Mit 19,4 Er-
krankten pro 100 000 Einwohner lag die
Hansestadt am Mittwoch an der Spitze al-
ler Bundesländer, vor Baden Württemberg
(14,5) und NordrheinWestfalen (13,2).
»Gut abgrenz- und grundsätzlich nach -
verfolgbar« ist nun nichts mehr. In der täg-
lichen Corona-Meldung des Senats heißt
es, »in den kommenden Tagen« sei »mit
einem weiteren deutlichen Anstieg der
posi tiv getesteten Fallzahlen zu rechnen«.
Jürgen Dahlkamp, Hubert Gude,
Gunther Latsch

Urlauberin Siering in Ischgl
Ohne Kontrolle zurück nach Hamburg
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