Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

S


tille – Lehrkräfte schätzen sie in ih-
rem Unterricht normalerweise sehr.
Doch seit einigen Tagen ist es im
Klassenraum von Paul Aurin fast unange-
nehm ruhig. Getuschel in den hinteren Rei-
hen? Gibt es nicht. Schritte auf dem Flur,
Lärm vom Schulhof? Ebenso wenig.
Aurin lehrt Mathematik und Informatik
am Marie-Curie-Gymnasium im branden-
burgischen Hohen Neuendorf, auch in die-
sen Tagen noch, wenn Schulen überall in
Land geschlossen bleiben. Das Marie-Cu-
rie-Gymnasium bildet keine Ausnahme,
auch seine Schülerinnen und Schüler sind
zu Hause. Der Lehrer aber ist es nicht.
Statt vor Siebtklässlern steht Aurin vor
einem Tablet-PC mit Webcam und spricht
unter anderem über binomische Formeln.
Sein Publikum sitzt nicht mehr vor seinem
Pult, sondern am Schreibtisch, auf dem
Sofa oder im Bett.
Um die Ausbreitung des Coronavirus
zu verlangsamen, haben alle Bundes -
länder beschlossen, den Präsenzunterricht
an den Schulen auszusetzen, meist bis zu
den Osterferien, vielleicht auch länger.
Während sich andere über »Corona-
Ferien« freuen, müssen alle 753 Schülerin-
nen und Schüler des Marie-Curie-Gymna-
siums weiterhin am Unterricht teilneh-
men – auch wenn manche von ihnen dabei
vielleicht noch den Schlafanzug tragen.
Die Schule hat ihren Lehrbetrieb ins Digi-
tale verlegt. Wer sich nicht morgens zwi-
schen 7.40 Uhr und 8.10 Uhr über das
schulische Kommunikationssystem »my-
Curie« als »anwesend« meldet, kommt zu
spät. »Ich sehe keinen Grund dafür, dass
die Schüler in dieser Zeit keinen Unter-
richt bekommen sollten«, sagt Schulleiter
Thomas Mei necke. »Das wäre eine Kata-
strophe.«
Meinecke hat deshalb mit zwei IT-affi-
nen Kollegen schon Ende Februar einen
Notfallplan ausgearbeitet und alle Lehr-
kräfte aufgefordert, ihre Digitalfähigkeiten
einzuschätzen und sich einer von drei
Gruppen zuzuordnen: Die »Klassiker«
verschicken nun Aufgaben und Arbeitsauf-
träge per E-Mail an ihre Schüler. Die Kin-
der senden ihre Ergebnisse auf demselben
Weg zurück. Die »Fortgeschrittenen«, der
Großteil des Kollegiums, arbeiten vorwie-
gend mit der Lernplattform »Google Class-
room«. Dort stellen sie Arbeitsblätter,
Lernvideos und andere Materialien bereit.
Schüler können über eine Chatfunktion


Fragen stellen, wenn sie etwas nicht ver-
stehen. Die »Pioniere« wie Mathelehrer
Aurin unterrichten per Livestream oder
Videokonferenz, Schüler können sich von
zu Hause aus über einen Computer oder
übers Handy zuschalten.
Diese Profis der dritten Gruppe, immer-
hin 15 der 68 Lehrkräfte, schulen außer-
dem ihre Kolleginnen und Kollegen. Nach
und nach sollen alle Live-Unterricht ab-
halten können. Aurin hat dazu eine Reihe
von Videotutorials gebastelt.
Der Plan gehe auf, sagt Schulleiter Mei -
necke, der Betrieb laufe fast ungestört wei-
ter. Seine Schule ist schon seit einiger Zeit
in der digitalen Lernwelt angekommen. In
allen Klassenräumen hängen digitale Ta-
feln, es gibt ein ordentliches WLAN und
eine Cloud, in der Schüler und Lehrkräfte
Materialien teilen können. Ein Großteil
seines Kollegiums habe sich in den vergan-
genen Jahren weitergebildet. »Der Einsatz
kommt uns jetzt zugute«, sagt Meinecke.
Solche Bedingungen sind selten in
Deutschland. Bundesweit seien bisher nur
10 bis 15 Prozent der Schulen in der Lage,
digitalen Heimunterricht anzubieten,
schätzen die Bildungsforscher Klaus Hur-
relmann von der Hertie School und Dieter
Dohmen vom Forschungsinstitut für Bil-
dungs- und Sozialökonomie in Berlin.
Das haben viele bislang achselzuckend
hingenommen. Jetzt, in der Coronakrise,

merken alle auf einmal, was das heißt.
Manche Klassenlehrer müssen erst einmal
einen E-Mail-Verteiler einrichten. Lehr-
kräfte verschicken Hausaufgaben in ihrer
Not per WhatsApp oder auf dem Postweg.
Schüler klagen in den sozialen Netz -
werken über handschriftliche und mit dem
Handy abfotografierte Arbeitsblätter. An-
dere müssen Umschläge mit hektisch zu-
sammenkopierten Zettelsammlungen in
den Schulen abholen.
Mit modernem Lernen – zu jeder Zeit,
an jedem Ort, mit innovativen Methoden –
hat das wenig bis nichts zu tun. »In der
Coronakrise rächt sich, dass die Digita -
lisierung des Bildungssystems jahrzehnte-
lang verschleppt wurde«, kritisiert Katja
Suding, stellvertretende Vorsitzende der
FDP-Fraktion im Bundestag. Bund und
Länder müssten den Corona-Schock jetzt
als »Weckruf« begreifen. »Die Versäum-
nisse der Politik dürfen nicht dazu führen,
dass die Coronakrise eine Bildungskrise
nach sich zieht.«
Schulträger und Bildungspolitiker woll-
ten eigentlich längst weiter sein. Im Herbst
2016 hatte die damalige Bundesbildungs-
ministerin Johanna Wanka (CDU) ein mil-
liardenschweres Investitionsprogramm na-
mens »DigitalPakt#D« ins Gespräch ge-
bracht. Es sollte Deutschlands Schulen für
die Zukunft fit machen.
Doch erst einmal passierte nichts, dann
folgte ein langes Gerangel um die Frage,
wie viel Einfluss der Bund in Schulfragen
nehmen dürfe. Die Länder sahen ihre Bil-
dungshoheit bedroht, der Bund wollte,
wenn er zahlt, auch mitreden. Am Ende
konnte nur der Vermittlungsausschuss den
Konflikt beilegen. Erst im März 2019
schlossen beide Seiten den Pakt, Förder-
summe: 5,5 Milliarden Euro.
Heute, ein Jahr später, ist das Geld an
den meisten Schulen noch nicht angekom-
men, wie eine Umfrage des SPIEGELunter
den Kultusministerien ergeben hat.
In Flächenländern kommen die Anträge
in der Regel von den Kommunen, die
Schulträger sind. Thüringen und Mecklen-
burg-Vorpommern beschieden bis Mitte
Februar jeweils lediglich 3 Anträge positiv,
Brandenburg und Rheinland-Pfalz jeweils


  1. Baden-Württemberg zählte 14, Sachsen

  2. Etwas besser ist die Lage in Nieder-
    sachsen, dort erhielten bereits 86 Schul-
    träger einen erfreulichen Bescheid.
    Bremen, das als Stadtstaat selbst Schul-
    träger ist, hat bislang 87 Schulen Geld zu-
    gesagt. In Hamburg teilte Bildungssenator
    Ties Rabe (SPD) bis Mitte März sogar
    schon 339 Schulen ein Budget zu. An
    38 davon läuft die neue Technik bereits,
    an den anderen stehen in den kommenden
    Wochen und Monaten Bauarbeiten an.
    Das Saarland gibt an, derzeit sechs An-
    träge zu prüfen und »zeitnah« zu entschei-
    den. Der Branchenverband Bitkom mel-


Coronakrise

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Ohne Anschluss


Bildung In der Krise zeigt sich: Nur wenige Schulen sind
auf das Lernen via Internet vorbereitet. Milliarden
Euro aus dem Digitalpakt blieben in Amtsstuben hängen.

Quelle: Bitkom;
Hessen, Saarland,
Sachsen-Anhalt = 0;
restliche Bundes-
länder: keine Angaben

Bewilligte Fördermittel aus
dem Digitalpakt, 10. März 2020
Hamburg
116,1 Mio. €

Thüringen

Berlin

Bremen

Schleswig-Holstein

3,8

Sachsen

Bayern

Baden-
Württemberg

9,0

3,1

2,1

1,5

0,25

Schule online


15,2
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