Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

U


m ihre eigene Gesundheit macht
sich Jutta Calgéer keine Sorgen.
Angst hat sie um ihre 93-jährige
Mutter Edith Becker. Die hoch-
betagte Frau habe leichtes Asthma, und
die Tochter befürchtet: »Wenn meine Mut-
ter das Virus bekommt, könnte sie es nicht
überleben.«
Jutta Calgéer gehört mit 64 Jahren we-
gen ihres Alters ebenfalls zur Risikogrup-
pe, bei der eine Infektion mit dem neu -
artigen Coronavirus besonders schwer ver-
laufen könnte. Aber sie halte sich an die
Regeln, sagt die Tübingerin. Sie wahre den
Abstand zu ihren Mitmenschen, wasche
sich die Hände, ganz rau seien die bereits.
Auch das Haus ihrer Mutter betrete sie
nun nicht mehr – und wenn, dann nur mit
Mundschutz.


»Bist du krank, Jutta?«, frage die Mut -
ter sie jedes Mal erstaunt, und wenn Cal-
géer die Frage verneine, sage die alte
Dame erleichtert: »Dann nimm das Ding
doch ab.«
Jutta Calgéer würde so gern, normaler-
weise besuchen sie und ihre Schwägerin
die Mutter jeden Tag. Sie helfen ihr bei
der Gartenarbeit, beim Duschen, mit den
Augentropfen. Aber all das ist nicht mehr
möglich. Die Einkäufe, die Eierschecke
vom Bäcker mit Streuseln und Mohn, die
die Mutter so möge, legen die Frauen jetzt
vor der Terrassentür ab. Überträgt sich das
Virus auch über Bäckerpapier? Solche Fra-
gen seien ihr dabei durch den Kopf ge -
gangen, sagt Jutta Calgéer.
Ihre drei Enkel, alle im Grundschulalter,
sehe sie nur noch beim Waldspaziergang

mit den Hunden oder beim Fahrradfahren,
Körperkontakt ausgeschlossen. Sie ver -
misse die vertraute Nähe. Die Enkelkinder
von sich fernhalten zu müssen schmerze
sie am meisten, sagt sie. Bisher haben die
drei mindestens jeden Freitag bei ihr ge-
spielt und auch übernachtet.
Corona hat Deutschlands Familien er-
reicht, ihren Alltag, keiner mehr kann sich
den Folgen entziehen. In allen Bundeslän-
dern sind die Schulen und Kitas geschlos-
sen, Erzieher und Lehrer gaben gute Wün-
sche und Wochenarbeitspläne für Mathe,
Englisch und Kunst mit auf den Weg. In
wahrscheinlich allen Städten und Gemein-
den sitzen viele Eltern nach einem Kalt-
start mit Kabelsalat und neuen Passwör-
tern im Homeoffice, auf dem Bildschirm
die Gesichter der zugeschalteten Kollegen,

Coronakrise

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Ein großes Experiment


BeziehungenDas Virus zwingt viele Familien eng zusammen. Eltern und Kinder ringen um den


richtigen Umgang mit dem Risiko. Besonders konfliktträchtig: Gespräche mit den Alten.


JULIAN RETTIG / DER SPIEGEL
Tochter Calgéer, Mutter Becker: »Überträgt sich das Virus auch über Bäckerpapier?«
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